Hamburg. Das neue Album der britischen Rockband The 1975, „Notes On a Conditional Form“, ist voll mit Hits und jeder klingt anders.

Eine konditorische Köstlichkeit, superlecker angerichtet; Kirsche, Sahne, Schokostreusel. Die einen stürzen sich drauf, die anderen üben mit verkniffener Miene Verzicht. Sie können nicht gönnen, gleich gar nicht sich selbst. Großbritanniens derzeit „größte Band“ („The Guardian“) The 1975 ist wie ein Stück Kuchen.

Sie hat so viele Fans wie Verächter. Wenn man sich das neue, vierte Album des aus Manchester stammenden Quartetts anhört, wird deutlich wie nie, warum The 1975 einerseits polarisiert, andererseits so erfolgreich ist: „Notes On a Conditional Form“ (Polydor, CD ca. 16, Vinyl ca. 30 Euro) ist voll mit Hits, jeder klingt anders.

Die Band um Sänger und Frontmann Matt Healy (der im Übrigen die lächerlich perfekte Inkarnation des Rockstars der Gegenwart ist – bespielt alle Kanäle, war drogensüchtig, ist zur permanenten Selbstbespiegelung bereit etc.) und Schlagzeuger, Produzent und Multiinstrumentalist George Daniel kuratiert mehr denn je die Popgeschichte. Deswegen ist „Notes On A Conditional Form“ mehr Compilation als Album. Es ist ein Abenteuerspielplatz; das Beste aus vielen Jahrzehnten populärer Musik, großzügig ausgebreitet auf 80 Minuten.

Dabei ist es nie so, dass die Band die verschiedenen Stile amalgamiert und etwas Neues schafft. R ’n’ B, Soul, Dubstep, Dance, Elektro, Indierock, Country, Folk, Marilyn Manson: Sounds und Vorbilder werden so offenherzig zitiert, dass man dieses Konzept längst als plausibelste Strategie der Alles-schon-dagewesen-Gegenwart erkennen muss. Auf „Notes On…“ sind die für die Band üblichen aus der Konsole kommenden, exquisiten instrumentalen Passagen zu hören.

„Notes On A Conditional Form“ ist grandios zu lang

Dazu auch der sattsam bekannte Autotune-Gesang, der den Klang forciert im Heute andockt. Was letzteres angeht, ist das erste Stück mit Greta Thunbergs Appellen („It’s Time To Rebel“) der definitive Zeitgeist-Marker. Nach dem panischen Punkrock-Stresser „People“ folgen Songs, in denen es um Isolation und Identität („Frail State Of Mind“, „The Birthday Party“), um Beziehungen („Me You Together Song“) und Anderssein („Jesus Christ 2005 God Bless America“) geht. The 1975 ist die Band der Millennials, aber nicht nur.

Wer sollte sich mehr von einem Stück wie „If You’re Too Shy...“ mehr begeistern lassen als der Hörer, der Saxofonsoli schon in den 80ern geil fand? Zuletzt war das Album, dessen Songs in etwa gleichzeitig mit denen des Ende 2018 erschienenen „A Brief Inquiry In Online Relationships“ erschien, mehrmals verschoben worden. Dafür wurden vor der jetzt erfolgten Veröffentlichung acht Stücke herausgebracht. „Notes On A Conditional Form“ ist grandios zu lang, es ist das zeitgenössischste Werk, das man sich denken kann. Die kalorienreiche Belohnung für eine entbehrungsreiche Gegenwart. Man muss, so als strenger Kri­tikaster und Superhipster, nur den Mut haben, sie am Ende doch widerstandslos entgegenzunehmen.