Hamburg. Das Debüt des Hamburger Autors erschien genau dann, als fast alles dicht machte: Lesen muss man es nun erst recht.
Pech ist es, einen Jieper auf Himbeermarmelade zu haben, und dann ist das Glas leer. Zur Bushaltestelle rennen, der Bus fährt einem vor der Nase weg: ebenfalls Pech. Pech ist es auch, wenn man in Hundekot tritt. Oder ist das alles eher Unvermögen? Und wie nennt man das, wenn so ziemlich gleichzeitig das kulturelle, gesellschaftliche, soziale Leben eingefroren wird und das erste eigene Buch erscheint, das persönliche Literaturdebüt? Dafür ist Pech dann vielleicht ein zu kleiner Ausdruck; und jedenfalls hat es mal gar nichts mit Unvermögen zu tun, wenn die Coronakrise dem Hamburger Medienkünstler, Musiker und Autor Sebastian Stuertz, Jahrgang 1974, komplett das Erscheinen des Romans „Das eiserne Herz des Charlie Berg“ zerschießt.
Am 16. März kam das Buch heraus, da waren fast alle Veranstaltungen schon verboten. Gleichzeitig traten viele weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens in Kraft, und Stuertz, der hauptberuflich Grafiken fürs Fernsehen animiert, guckte, nun ja: in die Röhre. Denn wie soll das gehen, als unbekannter Autor ein Buch auf den Markt zu bringen, dem beinahe alle Möglichkeiten der Präsentation und Inszenierung abhanden gekommen sind?
Ein Riesenwerk
Man kann eigentlich nur hoffen, dass das Buch, und jetzt endlich einmal wirklich und im Sinne des Wortes, ein Geheimtipp wird. „Das eiserne Herz des Charlie Berg“ hat alle Chancen dazu: Dieser heiß köchelnde, kalorienreiche, fettige Aromen ausschwitzende Literatureintopf. Dieses zwischen Jugendeuphorie, Beschwörung der Freundschaft, schwül-geilem Teenagerbegehren und Pennälerhumor changierende Epos, in dem ständig Hirschgulasch gegessen wird und das von den Jugendjahren eines jungen Mannes namens Charlie Berg erzählt. Auf mehr als 700 Seiten. Wir haben es hier, wie Heinz Strunk sagen würde, mindestens mit einem halben „Blauwal“ zu tun. Einem Riesenwerk, in das sein Autor alles hineingelegt hat.
Stuertz war ja, wie er selbst sagt, insgesamt 15 Jahre mit dem Stoff beschäftigt. Ernst machte er ab 2016. Er bekam einen Hamburger Förderpreis für Literatur, fand eine Agentur, einen Verlag. „Die Chance meines Lebens! Von so etwas habe ich als Musiker 25 Jahre lang geträumt. Und dann kommt dieses Virus und bläst alles ab: Messe, Premiere, Lesereise. Ich hatte mich so lange auf dieses Frühjahr voller Termine und Lesungen gefreut. So ganz habe ich es noch immer nicht überwunden, schließlich lässt sich das auch nicht einfach nachholen“, sagt Stuertz. Man kann es ihm nicht verdenken.
Stillstand ist keine Option
Den gegenwärtigen Stillstand bekämpft er aktiv, dazu kommen wir noch. Erst mal die Handlung des Buchs: Stillstand ist dort keine Option. Es ist viel los in diesem ohne erzählerische Skrupel verfassten Werk, das auf ganz merkwürdige und doch logische Weise anziehend ist: Nostalgie ist eine machtvolle Angelegenheit. Es sind, zumindest in der Erzählgegenwart, die Neunzigerjahre. Wie quietschbunt sie doch waren, wie optimistisch im Grunde – und wie analog. Wobei das eigentlich der einzige klare Hinweis auf eine bestimmte Epoche ist, all die Videotapes und Kassetten, daneben das Fehlen von Klugtelefonen.
Ein Zeitpanorama wird hier nicht entfaltet, viel eher ein Jugendbild in satten Farben. Charlie Berg entstammt einer in hohem Maße nicht-funktionierenden Familie. Vater ewig bekiffter Avantgarde-Musiker, Mutter Skandalregisseurin am Theater, Schwester autistisch und wandelndes Literaturlexikon. Anhand dieses Figurenarsenals wird klar, welche die Hauptwaffe des Autors ist: Es ist seine Fantasie, sie sprudelt.
Mehrere Nahtoderfahrungen
Im Verlauf der Handlung, die die Chronologie aufbricht, wenn es ihr beliebt und auch deswegen kühn in Szene gesetzt ist, erlebt der Leser mit dem herzkranken, aber mit beneidenswerten (oder bemitleidenswerten) olfaktorischen Eigenschaften ausgestatteten Helden Freundschaft, Liebe, sexuelle Erweckung. Es gibt Dorf- und Schulhoftyrannen, eine Angebetete in Mexiko, eine innig geliebte Oma – und zu Beginn gleich einen im Wald über den Haufen geschossenen Opa. Der Roman geht nämlich los wie ein Krimi, ehe er zur völlig enthemmten Hommage an die Jugend wird.
Mit denen aufs Podest des Erstrebenswerten gehobenen Disziplinen Popmusik und Literatur als Handlungsträgern: Ein aus dem Ruder laufendes Konzert und ein zum Intrigenstadl verkommener Literaturwettbewerb sind Höhepunkte des Geschehens. Da Charlie Berg, der Held dieses, sagen wir es endlich: Schelmenromans, eben kein titelgebendes „eisernes Herz“ hat, sondern ein schwaches, macht er mehrere Nahtoderfahrungen, aber die größte Gefahr für sein Seelenleben ist der Verrat.
Also, ein Roman, der hie und da unter all den Einfällen ächzen mag, auf den man sich einlassen muss – und der einen dann aber beschenken kann. Es ist nicht so, dass nichts für das Buch getan wird, um auf den Stillstand so vieler Kultur-PR-Räder zurückzukommen. Der NDR hat den Roman zu seinem Buch des Monats gekürt, und sein Autor nutzt, wie alle Künstler ohne reales Publikum, die digitalen Kanäle. Onlinelesungen findet Sebastian Stuertz aber nicht wirklich überzeugend: „Ich finde erstaunlich, dass es dafür überhaupt ein Publikum gibt, als Leser kann ich mir das nicht lange ansehen, egal wie toll ich die Bücher oder Autoren finde.“ Die Ton- und Bildqualität sei „oft miserabel“ und der Unterhaltungswert halte sich für ihn in Grenzen. Wenn er zu einer Onlinelesung eingeladen werde, versuche er „so kurze Abschnitte wie möglich zu lesen und so viel wie möglich zu reden“.
„Es könnte alles ein bisschen lustiger sein, kurzweiliger, besser produziert. Aber wir sind ja auch noch am Anfang der Pandemie, und die allgemeine Technik-Lernkurve lässt doch hoffen“, sagt Stuertz. Er selbst denkt nicht nur ans eigene Tun in diesen Tagen und hat die Internetrubrik „Lookabook“ mit auf den Weg gebracht, in dem andere literarische Neuerscheinungen eine Bühne bekommen.
Die Coronakrise nimmt den Menschen in diesen Tagen manches. Verlustmeldungen gibt es unendlich viele. Auch Sebastian Stuertz gibt eine auf, und sie betrifft nicht allein die fehlende Aufmerksamkeit für sein Debüt, sondern das von ihm seit einiger Zeit veranstaltete „Autor*innentrinken“, wie sein Salon-artiges Format Gender-korrekt heißt. Das fehle ihm und seiner Co-gastgebenden Frau, der Fotografin Tara Wolff, am meisten: „Mit den lieben Kolleginnen und Kollegen im Hinterhof unseres Ateliers Getränke einnehmen. Wir haben das schon per Videokonferenz ausprobiert, aber das ist natürlich nicht halb so lustig.“