Hamburg. Auch Ana Maria Labin war hinreißend, Yuri Mynenko eine Wucht: Bei Händels “Ariodante“ unter Marc Minkowski stimmte einfach alles.
Barock-Opern können schrecklich sein. Sobald während der uninspiriert dahingeworfenen Ouvertüre nach wenigen Takten klar wird, dass die nächsten Stunden lang, aber nicht grundsätzlich besser werden. Weil das Ensemble keinen emotionalen Zugang zu den Arien und in die Rezitative findet, weil es sich zu sehr aufs Notenbuchstabieren konzentriert und darüber das Lieben und Leiden vergisst, das es zu zeigen gilt.
Und wenn dann auch noch das Orchesterchen, mit dem diese Stücke unter spielerisch leichtem Druck zu halten sind, nicht stilsicher genug ist und lediglich irgendwie und halbherzig durch die Phrasierungsdetails stolpert, muss man bis zum Jubel-Finale sehr tapfer sein.
"Ariodante" in der Elbphilharmonie mit handverlesenem Cast
All das war am Freitag allerdings nicht der Fall, als Marc Minkowski, seine Musiciens du Louvre und ein handverlesener Cast die requisitenfreie Bühne des Großen Saals in ein mittelalterliches schottisches Schloss verwandelten, nur mit der Kraft ihrer Töne und einigen Gesten. Den Rest, den verzauberte die Musik.
„Ariodante“ ist eine der vielen schönsten Londoner Opern des mit allen Theater-Wassern gewaschenen Händel. Für das Saal-Debüt von diesem Orchester und seinem Chef Minkowski, beide ohnehin glänzend mit Barock-Repertoire, ein ideales Stück für einen ersten tollen Eindruck in diesem heiklen Raum, mit dieser Art von Show. Und um Akustik-Nörgler vorab auszubremsen, wurde immer wieder, mit dezenten Drehungen, auch in Richtung der Seitenränge gesungen. Andernorts sind Minkowski & Co. längst Stammgäste, wie viel Schönes und Gutes man hier bislang verpasste, zeigte dieses Konzert.
Keiner schlafe in dieser konzertanten Oper voller Energie
Mit den ersten Takten der energiegeladenen Ouvertüre, mit dieser Mischung aus Prunk, Drama und Leidenschaft, die nur Händel in einer Handvoll Takte hinbekommt, machte Minkowski klar: nessun dorma. Keiner schlafe. Wie und warum auch, wenn die Charaktere so glasklar und prägnant vorgestellt werden wie hier. Wenn das Orchester so klug und energisch zuarbeitet und die Affektdarstellung der handelnden Personen so sinnstiftend beflügelt.
Ana Maria Labin sang das allgemeine „love interest“, das Prinzesschen Ginevra, mit hinreißender Unmittelbarkeit. Als fieser Intrigant Polinesso war der Countertenor Yuri Mynenko eine Wucht, weil er Händels Charakterzeichnung noch verstärkte, ohne diese Rolle mit arg angespitzten Spitzentönen zur Karikatur werden zu lassen. Caroline Jestaedt war die letztlich herzensgute Zofe Dalinda mit einer Sopranstimme aus blondem Gold, James Platt als König ein elegant dunkles Prachtbeispiel dafür, dass barocke Basspartien interessanter sein können als ihr Nebendarsteller-Renommee.
Die Zeit stehen lassen, die Welt in Ordnung bringen: Nur Händel kann so etwas
Doch die beiden mit Abstand großartigsten und herzerweichendsten Arien, die Hauptrolle der Herzen, das größte Aufmerksamkeits-Plus, sobald Händel es darauf anlegt, Augen feucht werden zu lassen oder mit Koloratur-Loopings Publikums-Jubel zu erkomponieren? All das hatte die Mezzosopranistin Marianne Crebassa in der Titelrolle des in jeder Hinsicht noblen Ariodante ganz für sich allein.
Als sie den Händel-Hit „Scherza infida“ sang, mit elegischer Anmut und fürchterlich schmerzender Trauer im Kern jeder Note, blieb einige Minuten lang die Zeit stehen. Und als Crebassa später, kurz vor dem Happy End, mit „Doppo notte“ jubilierte und triumphierte, war die Welt wieder in Ordnung. Nur Händel kann so etwas. Und nur wenige Sängerinnen können das derzeit so bravourös und elegant singen wie Crebassa.