Hamburg. Das neue Coldplay-Album „Everyday Life“ ist erstaunlich politisch und ein Quantensprung in Sachen harter Direktheit.

Das Faszinierende an der gegenwärtigen Klimarettungsaufregung ist, dass die Menschen, berühmte und unberühmte, nun begeistert und sehr überzeugt das tun, was sie schon längst hätten tun können. Man nennt es das Greta-Gesetz. Das schreibt der vermutlich aktuell größten Band der Welt vor, bis auf weiteres Welttourneen aus ihrem Programm zu streichen. Solange jene nicht klimaneutral zu haben sind. Diesen Verzicht hat Chris Martin jetzt erklärt. Popstars, die mit gutem Beispiel vorangehen, wer möchte da ernsthaft motzen über die forcierte Zeitgenossenschaft, in der man erst mal das tut, was auch gut ankommt?

Außerdem passt das Thema Klima ja ganz gut zum jetzt erscheinenden neuen Coldplay-Album „Everyday Life“, das eher düster geraten ist und den Alltag als Pro­blemzone begreift. Ein Song handelt vom Bürgerkrieg, einer vom Waffenwahn, einer von Polizeiwillkür. Das ist, im soften und allgemeinen Coldplay-Universum des barmenden Herzeleids hier und des jubelnden „A Sky Full Of Stars“ dort, ein Quantensprung in Sachen harter Direktheit. „Everyday Life“ ist ein geradezu politisches Album.

Coldplays Paradigmenwechsel kann nur falsch sein

Und es wird all die Spötter und Hasser auch deswegen bedienen, weil für die im Falle von Coldplay, der jubilierenden „Woo-hooo-hoooo“-Band mit immergleicher Hitformel, auch der Paradigmenwechsel nur falsch sein kann: Es gibt kein richtiges Album im falschen Werk. Jene Coldplay-Kontrafraktion dürfte nun fröhlich ätzen, dass der klimabewegte Verzicht auf Konzerte doch tatsächlich und fürwahr nobel sei: So muss erst einmal niemand mehr die Heulboje Chris Martin live ertragen.

Aber von Coldplay stimmt eben immer auch das Gegenteil, dies ist das Paradoxon des Mainstreams: Was viele schlecht finden, finden auch viele gut. Auf ihrem selbst gewählten Weg der Welteroberung durch Eingängigkeit und maximale Wiedererkennbarkeit hat die 1996 gegründete englische Band ihr Portfolio wieder leicht modifiziert, ohne dabei Gefahr zu laufen, ihre Fans zu vergrätzen. Das ist auch eine Kunst.

Sensationelles Saxofon, Gospel und Pop

Das Albumcover von „Everyday Life“.
Das Albumcover von „Everyday Life“. © Warner Music | Warner Music

Auf „Everyday Life“ gibt es ein (sensationelles) Saxofon zu hören, Gospel, Akustikgitarrenzwischenspiele, Voice-Samples, klassische Klänge, Pianoballaden, Prog­rock, Choräle und Pop. Das ist musikalisch ein hübsches Sammelsurium, vom Inhalt her, wie erwähnt, sowieso. Die Band, der oft die hohltönende Leere ihrer Lieder vorgeworfen wird (es sollte tatsächlich niemand behaupten, Coldplay wären speziell für ihre Songtexte zu loben), hat ihr achtes Studioalbum in zwei Teile zerlegt. „Sunrise“ und „Sunset“ also.

Erweckungslieder haben sie nie geschrieben, aber kraftspendende Songs eben schon, erhebende Stücke, die ins Allgemeine zielen und ganz grundsätzlich gute Laune machen sollen. Daran konnte noch nie etwas falsch sein. Auf „Everyday ­Life“ sind Freundschaft und Gott der Silberstreif am Horizont. Oder: Mit dem Erlöser (lieber Chris Martin als Kanye West!) geht die Sonne auf.

Wenn „Everyday Life“ erklärtermaßen ein Konzeptalbum ist, dann ist es ganz simpel das Konzept der popstrategischen Vielfalt, das hier waltet. Ein in seiner Schlichtheit und Kitschcourage so betörender Song wie „Daddy“ („I know you’re hurting, too/But I need you, I do/Daddy, if you’re out there/Daddy, all I want to say/You’re so far away“), den nur beinharte Zyniker wahrhaft verachten können, hat mit der weltmusikalisch aufgepumpten Kompositionsgroßtat „Ara­besque“ nur wenig zu tun.

Album ist mit der Patina des Vergangenen bezogen

„Arabesque“ ist eine Völkerverständigungshymne: „Music is the weapon, music is the weapon of the future“ – Musik ist die Waffe der Zukunft. Herrlich naiv, aber mit Power und Bumms in die Welt posaunt. Das bombastische Finale föhnt über alles hinweg, was in der Popgegenwart auf den Boxen rappt und autotuned. Als direktes Gegengift gegen die Verführungen der Wall of Sound empfiehlt sich freilich wie zu Großvaters Zeiten ein Punkrocksong; einfach irgendeiner, gegen den Schönklang.

Das neue Coldplay-Album ist nicht nur von der Anmutung her mit der Patina des Vergangenen bezogen. Das Cover besteht aus einer 100 Jahre alten Aufnahme einer Musikantengruppe, zu dem der Urgroßvater von Gitarrist Jonny Buck­land gehörte. Die Band hat sich, wahrscheinlich weil sie sich längst als Popdinosaurier fühlt, retroversessen in das Bild geschlichen. Eine wirklich hübsche, eine altmodisch analoge Idee war es, die Veröffentlichung von „Everyday Life“ und seine Tracklist als Kleinanzeigen weltweit in Zeitungen zu veröffentlichen.

Coldplay ist die Band der einfachen Botschaften, und nicht zuletzt das ist es, was ihre enorme Popularität ausmacht. Sie appelliert an unsere Gefühle, in einer Unbedingtheit, die manche ratlos zurücklässt oder oft zum allenfalls heimlichen Vergnügen aller Pop-Feinschmecker macht. Coldplay ist die immer noch uncoolste Band des Planeten, und sie erledigt auch 2019 einen Job, für den die Pop-Vorsehung nur die ganz Harten auserkoren hat: gleichermaßen gehasst und geliebt zu werden.