Hamburg. Klimawandel-Algorithmus veränderte Musik der “Vier Jahreszeiten“. Nach dem Konzert musste sich der Dirigent erklären.

Die idyllischen Vogelstimmen-Triller? Anders als sonst. Das sanfte Zirpen der Grillen? Fast verschwunden. Der Solo-Part, gespielt vom NDR-Konzertmeister Roland Greutter in der Elbphilharmonie, stand quer zu den harmonisch und metrisch schrägen Sonderbarkeiten, die auf einmal im Tutti passierten. In dieser Version von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ war die immer so vertraut klingende Natur eindeutig aus dem Takt, der existenzielle Rhythmus war ins Trudeln geraten.

Die anmutigen Lautmalereien waren zu Zerrbildern geworden. Die Welt im Jahr 2019 - etwa ein Jahr, nachdem eine schwedische Schülerin entschieden Protest gegen den Lauf der Dinge einlegte - ist eine andere als die, in der Vivaldi lebte. Welche Ironie des Schicksals, dass gerade in diesen Tagen Vivaldis Heimatstadt Venedig mit einem der schlimmsten Hochwasserstände ihrer Geschichte zu kämpfen hat.

Klimawandel veränderte die Vier Jahreszeiten

Bläserstimmen legten sich nun wie schlimmer Smog aus Millionen Automotoren lähmend über die empfindlichen, jahrhundertealten Streicher-Passagen und versauten die Klang-Balance. Der „Frühling“ war länger als im Original, 15 Takte, dafür war der „Winter“ am Ende kürzer, und über alle vier Violinkonzerte des Venezianers verteilt waren 84 Takte mit neu entstandenen Sommer-Motiven, als Vertonung der Extremwetterlagen, die den harmonischen Jahresablauf verändern. Überhaupt, der Sommer. In diesem Abschnitt war aus der Wärme eine sengende Hitze geworden, das Stück ächzte und litt.

Ein normaler Vivaldi zum Mitsummen und Malebenweghören war das ganz und gar nicht, den das NDR Elbphilharmonie Orchester und sein Chefdirigent Alan Gilbert an diesem Sonnabend als vertonte Anklageschrift gegen den Klimawandel präsentierten. Eine Metapher für das, was in der Natur passiere, sei das Vivaldi-Arrangement des NDR-Posaunisten Simone Candotto, hatte Gilbert zu Beginn des Sonderkonzerts erklärt, in dem die barocken „Quattro Stagioni“ zu „For Seasons“ mutierten.

Metastasen, aus immer alarmierenderen Klimadaten abgeleitet, wucherten im Verlauf der Stücke in der Partitur, wo Vivaldi nichts als ungetrübte Bilderbuch-Natur-Anklänge vertont hatte. Die Grenzen von klassischer Kulturproduktion und akutem gesellschaftlichem Handlungsbedarf gingen hier fließend ineinander über.

Klassik-Weltstars nicht mit Bahncard unterwegs

Es ist alles so fürchterlich kompliziert und doch auch sehr einfach, sprach jedem einzelnen diese Performance ins Gewissen. Jeder kann etwas ändern, kein kleiner Schritt in die richtige Richtung wäre unnötig, während die Uhr tickt. Nicht zuletzt war dieser Auftritt, auch vor den Kameras fürs Internet, eine Selbstbezichtigung. Denn die international vernetzte Klassik-Branche ist nach wie vor massiv aufs ständige Reisen und hektische Gastieren angewiesen.

Weltstar wird und bleibt man in diesem Metier eher nicht mit einer Bahncard oder per Fahrrad. Doch der Sinneswandel hat inzwischen Folgen, erklärte Gilbert als NDR-Chefdirigent, man werde zukünftig intensiver über klimaverträgliches Tun und Lassen nachdenken, betonte er unmittelbar nach dem Konzert. Das Entwicklungsprogramm der UN habe sich vor wenigen Tagen wegen dieser ungewöhnlichen Aktion gemeldet, man wolle reden, was gemeinsam möglich wäre.

Als abschließende Warnung hatten Orchestermitglieder kurz zuvor ein Breitwand-Transparent auf der Bühne platziert: „Wir haben alles über den Klimawandel gehört. Jetzt ist es Zeit zuzuhören.“ Es gab stehende Ovationen nach einigen Momenten beklemmender Stille, für Musik mit einer unmissverständlichen Botschaft.