Hamburg. 9500 Fans, alle Kracher von Modern Talking, DSDS-Hits und Schlagermedley – Dieter Bohlen spielte: Dieter Bohlen.
Es gab einen ganz kurzen Zeitraum, im Frühjahr 1985, da war Modern Talking der Wahnsinn: Wenn man neun Jahre alt ist, auf dem Weg ins Fußball-Wochenendlager in der Wingst in einem Opel Kadett D die Elbbrücken überquert und der Trainer mit der Kippe in der Hand am Steuer das Autoradio lauter dreht.
Modern Talking – maximaler Erfolg bei fragwürdiger Qualität
„You’re My Heart, You’re My Soul“, dringt durch den Tabaknebel, die weinende Slide-Gitarre kündigt den baldigen Wechsel ins Falsett an, und kurz waren Thomas (Anders) und Dieter (Günter Bohlen) unsere Helden. Stunden später, auf einem hautzerfetzenden Grandplatz, waren wir aber wieder Karl-Heinz (Rummenigge) und Hans-Peter (Briegel) – und Modern Talking war auch schon wieder uncool geworden. 1987 löste sich das Duo auf.
Dennoch steht Modern Talking bis heute für maximalen Erfolg bei fragwürdiger Qualität oder auch für Hans-Peter Briegel in Pop: Die „Walz aus der Pfalz“ kannte nicht den Ansatz von Spielkultur, durfte aber bei Hellas Verona gegen Bälle und Knochen treten. Und Modern Talking war mit eleganten Melodien und sturen Einmarsch-Beats eine Art Italo-Disco mit kartoffeldeutscher Lebensfreude, wie Gino-Ginelli-Eis in der Plastikschale auf dem Fliesentisch. Mirácoli ist fertig!
Dieter Bohlens musikalische Halbfertiggerichte
Musikalische Halbfertiggerichte, dafür hatte (und hat) Dieter Bohlen wirklich ein Händchen. Ob er nun bei den beiden Phasen von Modern Talking Mitte der 80er- und Ende der 90er-Jahre den Ton angab, bei seinem Soloprojekt Blue System oder als Produzent und Songschreiber für eine große Kundschaft aus dem Pop-, Schlager- und Castingshow-Metier.
Auswahl der Auszeichnungen für Dieter Bohlen
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Dafür, dass ihn eine Menge Leute angeblich schnell satt hatten, hat es doch vielen geschmeckt: 100 Millionen Tonträger hat er abgesetzt seit seinem ersten Welthit „You’re My Heart, You’re My Soul“, der laut eigener Aussage „in 20 Minuten hingekliert“ wurde. Man möchte nicht wissen, wie schnell die anderen Lieder fertig waren, nachdem er seine immer erkennbare Erfolgsschablone fertig geschnitzt hatte.
Das ganz große Heimspiel in Hamburg fehlte Bohlen noch
Dieter Bohlen hat als Musiker, Musikschaffender und als TV-Persönlichkeit wahrscheinlich deutlich mehr erreicht, als er sich bei allem Selbstbewusstsein jemals erhofft hat. So wie die Nationalmannschaft, die sich 1982 irgendwie ins WM-Finale gegen Italien gebolzt hatte.
Etwas aber fehlte in seiner Vita: die große Show, die großen Tourneen, der ganz große Jubel, und das ganz große Heimspiel in Hamburg. Eine Tour mit Modern Talking in der Hochphase fiel aus, weil der Veranstalter gestorben war. Mit Blue System schaffte er es 1992 in die Moorbekhalle nach Norderstedt und beim Modern-Talking-Comeback 1998 in die Sporthalle Hamburg, aber die richtigen Sausen feierte er in Osteuropa, besonders gern und oft in Moskau.
"Da will ich auch mal rein“, erzählt Bohlen
Mit Konzertshows hörte er 2003 auf, als in Hamburg gerade die heute Barclaycard Arena genannte Halle fertig war. „Jahrelang bin ich daran vorbeigegangen und dachte mir: Da will ich auch mal rein“, erzählt Bohlen am Freitagabend, als er es endlich geschafft hat. Fast 10.000 Fans, die meisten mit Modern Talking in den 80ern aufgewachsen, sind dorthin gekommen und erleben einen 140 Minuten langen Querschnitt aus Bohlens Karriere.
Ohne Thomas, aber mit jemand „anders“ namens Joel am zweiten Mikro und sechs weiteren Musikern singt Bohlen „You Can Win, If You Want“, „Atlantis Is Calling (S.O.S. For Love“), „Cheri Cheri Lady“, „Brother Louie“ und „You’re My Heart, You’re My Soul“. Der bestuhlte Innenraum steht komplett, auf den Rängen hingegen bilden sich jeweils Inseln von Stehenden da, wo weitere Vorlieben mitgetanzt und -gesungen werden. Mal ein Grüppchen bei Blue-System-Oldies („Magic Symphony“), mal ein Häuflein bei Pietro-Lombardi- oder Mark-Medlock-Songs, mal ein Liebespaar bei Chris Normans „Midnight Lady“.
Und Bohlen singt live, obwohl er selber immer betont, dafür kein Talent zu haben. Das alles ist ebenso mutig und sympathisch wie ein Medley seiner „Schlagernummereinsen“ von Andrea Berg, DJ Ötzi, Yvonne Catterfeld und Beatrice Egli. Auch dass Bohlen offensichtlich nicht sehr gut weiß, wie man eine moderne Arena-Show entwirft, hat seinen trashigen Charme.
Bett auf der Bühne in Hamburg
Rauch- und Feuerfontänen sind zwar ganz nette Effekte, aber die Idee, bei „My Bed Is Too Big“ ein großes Bett auf die Bühne zu schieben oder bei „Mamacita“ mit einem aufblasbaren Pizzastück und weiteren Pool-Spielzeugen für „tropisches Feeling“ – hä? – zu sorgen, ist schon bemitleidenswert gestrig.
Und weiß der Himmel, warum bei „Geronimo’s Cadillac“ auf der Videoleinwand ein Chevy Bel Air gezeigt wird. Das Showkonzept wurde vielleicht auch in 20 Minuten hingekliert. Als würde man eine alte Folge der Musiksendung „Formel Eins“ sehen. Fehlt nur noch kniehoher Trockeneisnebel.
Den gibt es zwar nicht, stattdessen als Zugabe noch mal die Modern-Talking-Hits im Schnelldurchlauf. Es bleibt der Eindruck, dass dieser Abend nicht nur dem Großteil der gut 10.000 Besucher, sondern auch Dieter Bohlen tierischen Spaß gemacht hat. Pop satt. Ein Konzert, das man nicht ernst nehmen muss, um es zu genießen. Oder um den Pixar-Film „Ratatouille“ zu zitieren: „Wenn man den Würgereiz erst mal überwunden hat, kann man so ziemlich alles essen.“ Mirácoli ist fertig!