Hamburg. Konzertzyklus, in dem Levit die 32 Beethoven-Sonaten spielen wird, beginnt eindrucksvoll. Doch zunächst zerstörte ein Handy die Stille.

Thomas Bernhard hätte geschossen, jede Wette. Einen halben Sekundenbruchteil vor dem Beginn der ersten von 32 Beethoven-Sonaten, am ersten von acht Abenden in zwei Spielzeiten, war alles so was von bereit. Die Hände waren schon so nah über den Tasten für den aufgefächerten f-Moll-Akkord, mit dem op.2/1 eine neue Welt eröffnet. So nah, dass der Flügel-Magnetismus beim Solisten schon wirkte, explosiv wie ein Galopper mit Bluthochdruck an der Startlinie. Und dann, wirklich genau dann: bimmelte tatsächlich ein gottverdammtes Handy in die Stille (brachiales Röcheln und Niesen, zielsicher in bester Hamburger Konzert-Tradition in die leisen Stellen abgefeuert, sollten folgen).

Die Wut über die verlorene Konzentration beim Start in den ersten Beethoven-Sonatenzyklus unter dem Dach der Elbphilharmonie bekam Igor Levit aber bewundernswert souverän in den Griff; er konterte mit einer anderen Klingelton-Melodie und machte sich anschließend erneut ans Werk. Und dass er nicht auf Distanz bleiben will oder kann, sagte auch die Körpersprache, die oft fast glenngouldig gefaltete Sitzposition, ganz dicht heran an die Tastatur.

Levit wollte sich ja nicht auf der gesicherten Seite fühlen

Was in diesem eindrucksstarken Konzert passierte, lässt sich am besten von hinten erklären und einordnen. Denn die erste, begeistert gefeierte Etappe dieser Langstrecke endete mit der „Waldstein“-Sonate, Nummer 21 von 32, jene besonders viel Respekt verlangende Sonate, in der das Klavier radikal zum Orchester-Double zu werden hat. Sie war der dramatischste, revolutionärste Kern dieses Abends. Das geliebte Biest, das es zu zähmen galt.

Wie sehr es ihm sprichwörtlich in den Fingern juckte, dieses Duell mit einem Epochenwerk anzugehen, sah man Levit an. Er empfand das flatternde Grundpochen der Einleitung oberhalb der Flügel-Tastatur kurz vor, um sich sensibel zu machen für die Ideen und die wundersamen Herausforderungen der nächsten 30 Minuten, die so weit ausholen und so gekonnt in die Abgründe locken.

Levit musste Fast-Fehlstart verdrängen

Um sich auch ja nicht auf der gesicherten Seite zu fühlen, rannte Levit förmlich in den ersten Satz, fegte alle Sicherheitsbedenken beiseite und hielt voll, geradezu fanatisch drauf, nach der Devise: Wer bremst, verliert. Und dennoch rutschte der Klang an sich nie ins Grobe, Scharfe, Schartige. Im Adagio molto wurde es stockfinster, schwer, haltlos, ein Suchen nach Erlösung im Nebel des existenziellen Zweifelns, dünne Luft, kurz vor der Unhörbarkeit stellenweise, bis dann, am Ende des Tunnels, die erlösende Helligkeit des Rondos auftauchte, in dem ein letztes Mal der angstfreie, über die Notenmassen triumphierende Virtuose gefragt war.

Die vorangesetzten Sonaten waren dagegen eher Versprechungen auf noch kommende Größen und Herausforderungen gewesen. In Nr. 1, die trügerisch kinderleicht wirken kann, zeichnete sich ab, dass Levit sich im Zweifelsfall für klar geformte Anschlagsschönheit entscheidet und gegen analytische Zuspitzungen. Und dass man auch mit kleinen Temponuancierungen weit kommt beim Vermeiden von harmloser Pauschal-Virtuosität. Im Kopfsatz musste Levit zunächst trotz der Allegro-Tempovorschrift seinen inneren Ruhepuls erst finden, um den Fast-Fehlstart zu verdrängen, das Adagio sang aber sanft und entspannt vor sich hin.

Als Vorspiel zu den beiden folgenden Sonaten war dieses Frühwerk aber vor allem eine gehobene Lockerungsübung, nicht zuletzt, weil ja auch Beethoven selbst noch nicht zu wissen schien, wie wohin mit sich, seinen Absichten und dem Potenzial zur nachdrücklichen Verstörung.

In den mittleren Sonaten blieb Levit verbindlich und höflich

Das allerdings hatte sich – und Levit machte das in den mittleren Sonaten Nr. 12 und Nr. 25 überzeugend klar – grundlegend geändert: Der Beethoven, den Levit hier zur Diskussion stellte, hatte seine Eigenwilligkeiten griffbereit parat und ignorierte Konventionen, der schlug nach Lust und Laune jähe Haken, von einem Gemütszustand in einen ganz anderen. Derart drastisch, bis zum Anschlag exzentrisch wollte Levit diese Sonaten offenbar nicht ausreizen; er blieb verbindlich und höflich. Doch der todesdunkle, erschütternde Trauereinbruch im „Marcia funebre sulla morte d’un Eroe“, der war ein starkes Stück. Dort verweigerte sich Levit dem Pathos-Sog, für romantisierende Heldenverehrung ohne Wenn und Aber ist er im Hier und Heute eindeutig nicht zu haben, signalisierte dieser Interpret.

Im Beethoven-Sonaten-Kosmos wirkt die Bezeichnung „Sonatine“, mit der Nr. 25 G-Dur op. 79 etikettiert wurde, womöglich als Verniedlichung und Entwarnung. Im Kontext der Abend-Dramaturgie war sie Durchgangs-Genuss, ein dreisätziger Rastplatz mit Durchatme-Option vor dem „Waldstein“-Stress. Im ersten Satz veredelte Levit das muntere Hin und Her der Einleitung mit kaschmirweich perlenden Läufen in der Durchführung, das fröhlich dahinplätschernde Vivace machte er zum kurzen Abenteuerausflug für zehn Finger. Erst danach wurde es ernst und übermächtig, da war keine Zeit und keine Gelegenheit mehr für Abschweifungen.

Ein letzter Gruß an alle Klingelton-Ignoranten

Die erste Dialog-Runde von Igor Levit und Ludwig van Beethoven vor begeistertem Publikum ging entschieden, nicht unentschieden aus. Mit zwei bewusst ironischen Zugaben, Schostakowitschs Walzer-Scherzo und Schtschedrins Humoreske gab es einen letzten Gruß von der Bühne an alle Klingelton-Ignoranten und Hustenwoller. Und falls diese aufmerksam mitdenkende Linie des Suchens und Findens von Levit so klug und abwechslungsreich beibehalten wird, könnte beim Hinterfragen der übrigen 28 Beethoven-Sonaten noch mehr Großartiges entstehen. Der Zyklus hat ja gerade erst begonnen.

Der Konzert-Zyklus geht am 17. und 19.11., 20 Uhr weiter, es gibt noch Restkarten.

Die 32 Sonaten sind bei Sony Classical auf 9 CDs erschienen. Podiumsdiskussion: Am 24.9., 19 Uhr, sprechen Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und Igor Levit im Thalia Theater über 70 Jahre Grundgesetz, den demokratischen Diskurs und die Rolle der Kunst. Karten 11 bis 22 Euro.