Berlin. Mit seinem Amtsantrittskonzert in der Berliner Philharmonie erfüllte der neue Chefdirigent die hohen Erwartungen.

Nun also ist es offiziell. Eigentlich fehlte nur noch, wie in alten Hollywood-Komödien, ein großes „Just married!“-Banner am Dach der Berliner Philharmonie: Kirill Petrenko, der große Schweiger und noch größere Orchesterflüsterer, hat am Freitag sein erstes Konzert als neuer Chefdirigent der Berliner Philharmoniker gegeben, als Nachfolger von Sir Simon Rattle, dem oft sehr quirligen britischen Weltbürger. Eine neue Ära, soll, muss, kann mit dem scheuen Russen beginnen, der nur zwei Wochen älter ist als Teodor Currentzis und dessen genaues Gegenteil.

Mit einem Programm, dass sowohl zu Petrenkos gewissenhaft-uneitler Art als auch zu Orchester und Ort passt: Kein oberflächliches Spektakel also, erst recht kein Spezialitäten-Teller als Renommee-Futter für die Kritiker-Abteilung im Parkett. Stattdessen eine leicht kuriose Kombination aus Bergs „Lulu“-Suite, die wohl kaum jemand im Gala-Publikum vermisst hätte, und Beethovens Neunter. Beides extrem eigen, in dieser Mischung beides beeindruckend souverän. Eine deutliche Ansage des Andersseins.

Wunderbare Farbschattierungen im Orchesterklang

Natürlich, wie immer bei solchen Vermählungs-Anlässen, spielten die Berliner noch besser, noch freudiger, noch pflichtbewusster und kürfreudiger als bei „normalen“ Terminen. Und doch war es eine Freude, mitanzusehen und mitanzuhören, wie seidenweich und geschmeidig Petrenko zunächst Bergs streng strukturiertes Opern-Destillat anging. Da klang vor allem der Spätromantiker in Petrenko durch, der Mitgefühlsdirigent, der dieser spröden, seinerzeit mutig ins Neue schreitenden Musik eine Sinnlichkeit verleiht, die in Vergangenheit und Tradition wurzelt.

Die eigentlich ungemütliche, verstörende Musik, dieses Psychogramm einer sehr besonderen Frau, wurde unter Petrenkos elegant entgiftender Wegweisung zu einer betörenden Charakterstudie. Wunderbare Farbschattierungen im Orchesterklang, und – wenn auch nur für einige wenige Momente – die scharf und klar funkelnde kurze Lulu-Wortmeldung durch die Sopranistin Marlis Petersen, Petrenkos erste Saison-Künstlerin. Auch das bezeichnend: Keine große, lange Show zum Spielzeitbeginn. Nur ein cool gereichter Appetizer, eine genau abgewogene Kostprobe, die die Lust auf Fortsetzung und Vertiefung nicht jetzt schon stillen, sondern den Hunger nach mehr reizen soll. Denn in dieser Saison müssen sich die Berliner den „Neuen“ noch mit der Münchner Oper teilen, wo er seine letzte Saison als Generalmusikdirektor absolviert, gerade mal sechs Philharmoniker-Programme sind in dieer Spielzeit geplant. 

Unsentimental und liebevoll schroff war dieser Beethoven

Nach der Pause, nach einem ersten Staunen über die Exzellenz der 125 Tutti-Solisten, die gute alte Neunte Beethoven. Aber: eben nicht. Denn so energisch, wie Petrenko in sie hineineilte, ohne dabei übereilt zu wirken, war sie eben nicht alt, ältlich, gestrig, aufgewärmt und gediegen repräsentativ. Das war Hier und Jetzt und: Jetzt erst recht. Die berühmte Quinte zu Beginn des ersten Satzes? Petrenko sah sie als Tor zu einer Welt, als Ausgangspunkt für ein mutiges Streben, nicht als affirmative Selbstdarstellung. Die Tempi, von Anfang an: straff, sehnig, sportlich hin und wieder, mit temperamentvollem Pauken-Antrieb klug auf Krawall gebürstet.

Unsentimental und liebevoll schroff war dieser Beethoven in seinen ersten zwei Sätzen, sehr zielstrebig, aber auch eine gereifte dramaturgische Behauptung, ein Beleg dafür, dass mögliche Extreme nicht immer ausgelebt und ausgereizt werden müssen. Hier sollte von der Größe der Musik überzeugt werden, es ging nicht um Überwältigung, nicht ums leichter erreichbare Schneller, Höher, Weiter als Selbstzweck.

Bestens definierte Konturen und Respekt vor Beethovens Aktualität

Die Neunte, ein Stück, das wie kein anderes unter seiner Bekanntheit leiden kann, wenn es zum Klischee gerinnt, fing spannend an, hielt diese Spannung und legte im Schlusssatz sogar noch nach. Denn dort schaltete Petrenko final in den fünften Gang hoch, so dass der Schlussakkord, rekordzeitverdächtig, nach gut einer Stunde erreicht war. Das Solistenquartett, exzellent besetzt mit Petersen, Elisabeth Kulman, Benjamin Bruns und Kwangchul Youn, hatte mitunter Mühe, nicht ins Schleudern zu geraten.

Doch auch hier war oberstes Gebot: Genauigkeit. Bestens definierte Konturen und der aufrichtige Respekt vor Beethovens Aktualität; immer wieder ein Aufbrausen im Kleinen, um das Große dieser Utopie zu betonen. Ein Anfang ist nun gemacht, und die gerührte Freude, mit der Petrenko nach Konzertende noch einmal allein auf die Bühne kam, war auch ein Versprechen, dass das gemeinsame Streben nach Mehr gerade erst begonnen hat. Die Klassik-Welt hat eine neue Referenzgröße.

Open Air: Am 24.8., 20.15 spielen die Berliner Philharmoniker unter Leitung von Kirill Petrenko Beethovens Neunte Open Air vor dem Brandenburger Tor, auch als Erinnerung an den Fall der Mauer vor 30 Jahren. Erwartet werden rund 32.000 Besucher. Das Konzert ist kostenlos in der Digital Concert Hall des Orchesters zu sehen: www.digitalconcerthall.com und ebenso live im TV-Programm vom RBB. Weitere Infos: www.petrenko-live.de. Außerdem wird es in rund 150 Kinos übertragen, ein Kino in Hamburg ist allerdings nicht darunter.

Konzert: Am 17. Februar 2020 kommt Petrenko mit den Berliner Philharmonikern in die Elbphilharmonie. Auf dem Programm: Werke von Strawinsky, B.A. Zimmermann und Rachmaninow. Ausverkauft, evtl. Restkarten an der Abendkasse. www.elbphilharmonie.de

CD: Als erste gemeinsame Aufnahme wurde ein 2017 entstandener Mitschnitt von Tschaikowskys 6. Sinfonie veröffentlicht (Berliner Philharmoniker Recordings, CD 19,90 Euro, Download: 14,90 Euro).