Hamburg. Grandioses Finale des Hamburger Theaterfestivals mit einer zeitgemäßen „Medea“ im Schauspielhaus – allerdings ohne Medea.
Die Bühne blendet. Blütenweiß wie eine Waschmittelreklame aus den 80er-Jahren. Ein fleckenloser Neustart, so scheint es kurz, ist möglich. „No hard feelings“, winkt jovial der ungelenke Ehemann ab, der seine Frau gerade von irgendwoher abgeholt hat, etwas ist vorgefallen, nichts Genaues weiß der Zuschauer noch nicht. Sie wirkt selbstreflexiv, etwas unsicher vielleicht: „Ich hab ja fast alles kaputt gemacht...“ Jedoch das gleißende Bühnenbild (Bob Cousins) macht misstrauisch: Kein Leben ist so porentief rein, keine noch so austherapierte Beziehung derart makellos. Und diese Frau, deren Lider flattern, deren Blicke und Mundwinkel zucken, wie es die Live-Übertragung schonungslos auf die Videowand vergrößert, die steht auf der Kippe. „Jetzt fangen wir neu an. Wir fangen alle neu an“, verlangt sie, das verzweifelt optimistische Drängen schon früh im Tonfall.
Von Beginn hat man Angst – um sie, vor ihr, oft beides zugleich.
Im Wissen, natürlich, wo das alles hinführt. Der Titel stand einleitend in großen Lettern quer über die Bühnenbreite des Deutschen Schauspielhauses: „Medea“, die berühmteste Kindsmörderin der Theatergeschichte. Es ist das Finale des diesjährigen Hamburger Theaterfestivals und sein Höhepunkt, eine furiose Inszenierung des Wiener Burgtheaters, das schon zum Auftakt im Schauspielhaus zu Gast war. Diesmal mit Simon Stone, dem Stücke-Überschreiber. „Medea“ also, von Stone und nach Euripides – aber ohne Medea. Ohne Jason. Ohne Chor aus korinthischen Frauen.
„Anna“ nennt Stone stattdessen seine Protagonistin, kaum zufällig ein Allerweltsname, „Lucas“ heißt ihr Jason, und Stone zieht die Geschichte konsequent in die Gegenwart. Nicht allein über Kostüme, Requisiten oder hier und da modernisierte Sprache, sondern radikal: Stone orientiert sich in seinen Dialogen an einer tatsächlichen Familientragödie aus den USA, wo eine Ärztin nach der Scheidung ihren Mann mit Rizinussamen vergiften wollte, das Haus anzündete, die beiden Kinder verbrannte.
Systemische Familienaufstellung
Eine Tragödie griechischen Ausmaßes, die hier auch auf Länge eines „Kleinen Fernsehspiels“ nichts an Dringlichkeit und Intensität verliert. Ein unzufriedener Kritiker fühlte sich nach der Wiener Premiere im Dezember an die vergleichsweise banale Vorabendsoap „Marienhof“ erinnert, was schon angesichts der enormen schauspielerischen Leistung und des ungemein feinen Rhythmus- und Statusgefühls dieser Theaterproduktion doch sehr verblüfft. Stone präsentiert vielmehr eine Art systemische Familienaufstellung, eine Figur bleibt stehen, eine kommt hinzu, das Zentrum verschiebt sich, Verbindungen ändern sich, Brüche werden sichtbar.
Lucas, den Steven Scharf überzeugend linkisch, schwitzend und überfordert spielt, hat eine neue Frau (Mavie Hörbiger), die schon aufgrund ihrer Körpergröße zu ihm aufschaut, und die nicht nur jünger, schlanker, blonder ist als die anstrengend eigenständige Gattin, sondern, wie praktisch, zudem die Schwester des smarten Jungchefs (Christoph Luser). Und schon wie dieser „Boy’s Club“ hier lässig porträtiert wird, wie der eine den anderen nach oben kumpelt, das ist einfach fabelhaft beobachtet.
Fürchterliche Ausweglosigkeit
Medea, pardon, Anna, die Laborchefin im Unternehmen war, als sie ihren Mann kennenlernte, die auch seine Forschung entscheidend vorantrieb, hatte, genau genommen, nie eine Chance. Die Karriere, die macht er. Und Anna? Ist Täterin, keine Frage, aber eben auch ein Opfer; ihr Furor erklärt sich nicht nur aus der Kränkung nach der Affäre, nicht nur aus Eifersucht, gar aus Hysterie, sondern aus einer Ohnmacht dem gesellschaftlichen Gefüge gegenüber, aus einer Ausweglosigkeit, an der die eigentlich selbstbewusste, eigentlich klügere Frau schließlich zerbricht.
Nicht weil sie schwach ist.
Sondern weil sie sich nicht ergibt.
Caroline Peters spielt diesen multiplen Balanceakt grandios essenziell. Wie sie besessen nach Zuversicht sucht, wackelt, stürzt, kentert, wie sich Wut und Schmerz abwechseln mit dem Versuch des Krönchen-Richtens und der Selbstvergewisserung („Ich bin zäh, ich bin immer zäh gewesen.“), das ist nicht bloß denkbar weit entfernt von möglicherweise lauernder Banalität. Das ist in seiner emotionalen Wucht und Unerbittlichkeit kaum erträglich. Lange bevor am Ende das Haus brennt, brennt es lichterloh in dieser Frau. Die beiden Jungs (auffallend souverän: Sandro Eder und Noah Fider) verstärken das Drama, indem sie es, geschickter inszenatorischer Kniff übrigens, mit der Kamera begleiten.
Wie Simon Stone der Fallhöhe am Schluss ganz unaufgeregt mit einem leisen, poetischen Bild begegnet, das Ungeheuerliche vorweg nimmt, in dem er Asche wie Schneeflocken aus dem Schnürboden rieseln lässt, unter denen Mutter und Söhne schließlich wie schlafend verschwinden, ist ein Theatermoment, der einen lange nicht loslassen wird.
Und selten hat man das Strahlen einer Schauspielerin beim gewaltigen Schlussapplaus als so erleichternd empfunden wie nach dieser Vorstellung das gelöste Gesicht von Caroline Peters.
Stimmen von Besuchern:
Tillmann Wiegand, Eimsbüttel: „Es war wahnsinnig berührend und ging sehr an die Nieren. Unglaubliche Schauspieler, sehr toller Text. Es fällt schwer, zur Tagesordnung überzugehen.“ Regina Beuck, Altona: „ Überwältigend schrecklich. Und die Schauspieler hatten eine ganz tolle Präsenz.“