Hamburg. Der Ballettchef wurde zu seinem 80. Geburtstag mit einer fast viereinhalbstündigen Gala gefeiert.
Der Jubilar ist in Topform. Im weißen Anzug, einem Kostüm aus den „Bernstein Dances“, betritt John Neumeier die Bühne der Staatsoper und wirkt juvenil wie eh und je – und das mit 80 Jahren. Schon in den ersten Minuten nimmt er Ovationen entgegen. Mit „The World of John Neumeier“ zelebriert der Hamburgballettchef eine Gala zu eigenen Ehren. Und die fühlt sich eher an wie eine erweiterte Familienfeier. Denn seit 1973 gilt das Hamburgballett als so etwas wie Neumeiers Privatveranstaltung. Sein Vertrag läuft bis 2023. Sein fünfzigjähriges Jubiläum als Ballettdirektor am selben Haus könnte durchaus Wirklichkeit werden.
150 Ballette hat er hier auf den Weg gebracht, und an diesem Abend schreitet er alle wichtigen Stationen seines Lebens und Wirkens noch einmal ab. Der Gang durch die Jahre zeigt, wie seine neoklassische Ästhetik vor allem in den Anfängen die Grenzen des Gefälligen eher selten verlässt, weshalb sich bis heute viele auf ihn einigen können und er eine stete Traum-Auslastung über 90 Prozent erreicht.
John Neumeiers Lieblingsthemen ließen Staatstragendes befürchten
Die Lieblingsthemen seiner Choreografien, das Leiden des Künstlergenies, Liebesschmerz, existenzielle Einsamkeit, ließen ein staatstragendes Ereignis befürchten. Tatsächlich aber ist der üppige Gang durch sein Leben über viereinhalb Stunden von durchaus amerikanischer Leichtigkeit.
Scherzte der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher in seiner Eingangsrede noch, dass ja der Jubilar – übrigens einer von nur vier Hamburger Ehrenbürgern aus der Kunst - sogar an seinem Geburtstag arbeiten und den Abend moderieren würde, kommen die englischsprachigen Ansagen schon bald in Neumeier-gewohnter Perfektion vom Band. Der Choreograf selbst schaut seinem Werk zu Beginn noch vom Rand aus zu, dann übernimmt Lloyd Riggins als sein tanzender Wiedergänger.
Ein wenig salbungsvoll wird es dann natürlich doch, die frühe Begeisterung für den Tanz, für Gene Kelly und das Hollywood der 1940er-Jahre verbindet Neumeier mit einer Szene aus „Der Nussnacker“. Huldigt seinen Lehrern in Gestalt von Marc Jubete als Drosselmeier, der Anna Laudere als Louise in die Freuden des Spitzentanzes einführt. Weiter geht es mit Robert Schumanns „Kinderszenen“, wobei Christoph Eschenbach, langjähriger Leiter des NDR Sinfonieorchesters, am Klavier das noch eher streng auftanzende Quartett begleitet und seinen ganz persönlichen Geburtstagsgruß überbringt.
Manuel Legris und Leticia Pujol begeistern mit einem Abschied zweier Liebender
Der erste Teil schwächelt mit einem verzichtbaren Beitrag des Bundesjugendballetts zu Stevie Wonders „Happy Birthday“ und einem anheimelnd die Kreativität der Jugend beschwörenden Text aus dem Off. Ein wenig fehl am Platz wirken auch die sakralen Werke. Wo die „Matthäus-Passion“ noch mit abstrakter Spiritualität glänzt, wirkt das „Weihnachtsoratorium“ etwas aus der Jahreszeit gefallen. Mystisch aber gelingt der Pas de Deux von Gaststar Roberto Bolle mit Hélène Bouchet aus „Orpheus“. Eine Szene von purer Schönheit und Eleganz. Überhaupt glänzen neben den herausragenden Tänzerinnen und Tänzern des Hamburgballetts einige Gaststars, geben dem Abend Frische und Farbe.
In dem eher getragenen ersten Teil mit zahlreichen Pas de Deux und Pas de Trois auf weitgehend leerer Bühne begeistern Manuel Legris, langjähriger Star des Ballet de L’Opera National de Paris und Zögling des großen Rudolf Nurejew, sowie Leticia Pujol in „Sylvia“. Selten hat man einen so berührenden Abschied zweier Liebenden gesehen. Zwei Menschen in Alltagskleidung, die einander noch nicht loslassen wollen, als einer am Boden liegt, aber der mitgeführte Koffer verweist auf ein unausweichliches Beziehungsende.
Den größten Applaus erhalten John Neumeier selbst – und ein Männerduo
Nach der Pause nimmt der zweite Teil dieses langen Abends das Publikum gleich gefangen mit dem Traumpaar Guillaume Côté und Heather Ogden vom The National Ballet of Canada in „Nijinsky“. Côté brilliert in der Titelrolle des Neumeier-Balletts, das sich erfrischend weit aus dem klassischen Ballett-Bewegungsrepertoire herauswagt und anhand der tragischen Lebensgeschichte des jung dem Wahnsinn verfallenden russischen Tanzgenies Vaslav Nijinsky eine dringliche Dramatik entwickelt. Côté wirft sich mehrfach auf den Bühnenboden, verrenkt seine Glieder und führt aufs Extremste die Zerrissenheit des von Dämonen geplagten Genies vor.
Viele betörende Liebespaare reichen sich die Bühne weiter an diesem Abend, am innigsten vielleicht Edvin Revazov und Svetlana Zakharova als Gast des Balletts des Bolschoi-Theaters in „Die Kameliendame“. Den größten Szenenapplaus aber erhält ein Männerduo. Alexandre Riabko und Ivan Urban begeistern ganz in Schwarz mit bloßem Oberkörper mit dem schwebend leichten, positiven Freundesduo, kreiert zum 70. Geburtstag von Maurice Béjart: „Opus 100 – für Maurice“ zur Musik von Simon & Garfunkel.
Am Ende ist es aber Musik aus der fast schon jenseitigen „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, die den Schlusspunkt setzt. Silvia Azzoni und Carsten Jung bewegen sich wie in Zeitlupe und beschließen den Reigen dieses Künstlerlebens überraschend leise, berührend und fast intim. John Neumeier wirft aus dem Bühnenhintergrund einen langen Blick zurück, während Azzoni noch einmal den Bühnenrand abschreitet. Danach: stehende Ovationen, Lametta und viele weiße Rosen. Ein würdiges Ereignis. Aber die Show muss weitergehen. Und auf den nimmermüden Schöpfer warten noch viele neue choreografische Abenteuer.