Hamburg. Antonello Manacorda probt für Streamingauftritt mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester. Ohne Publikum und mit Abstand.

Elbphilharmonie, Großer Saal. Antonello Manacorda schlägt den Takt nicht. Er begleitet, vermittelt, eskortiert. Seine Zeichensprache ist klar und federnd. Man kann es geradezu sehen, wie die Musik durch den athletischen 50-Jährigen hindurchfließt. Manacordas dunkle Augen sind jederzeit bei den Musikern, mit jedem winzigen Ausdrucksdetail.

Diese Intensität kann er gut brauchen. Manacorda hat den Kampf mit einem natürlichen Feind des Musizierens aufgenommen: mit dem Abstand. Je größer die räumliche Entfernung, desto später kommt der Klang beim Hörer an – und auch beim Mitspieler. Diese physikalisch bedingten Verzögerungen gilt es beim Zusammenspiel immer wieder bewusst auszugleichen.

NDR Elbphilharmonie Orchester probt mit Manacorda

Gerade probt Manacorda Schuberts Fünfte mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester. Immer wieder ermuntert er die Musiker zu mehr Richtung im Spiel, hebt gestisch einzelne Stimmen heraus, damit die anderen auf sie hören. Zu den Oboen sagt Manacorda: „Es liegt wahrscheinlich an der Distanz, aber jetzt war es etwas zu leise.“

Kein Wunder, die Bläser sitzen ganz hinten, direkt an der durchbrochenen Bühnenrückwand des Großen Saals. Die Bühne sieht irgendwie gerupft aus. Gerade mal 27 Musiker verteilen sich in dem hellen Rund, sie sitzen meterweit voneinander weg. Jeder der 20 Streicher – normalerweise spielen Sinfonieorchester Schubert mit gut und gerne der doppelten Besetzungsstärke – hat ein eigenes Pult. Solche Aufbauten finden sich sonst nur bei neuer und experimenteller Musik. Traditionell gehen Orchestermusiker auf Tuchfühlung. Aber das ist jetzt verboten.

Manacorda hat das letzte Klassikkonzert geleitet, das vor dem Lockdown in der Elbphilharmonie vor Publikum stattfand, am 10. März war er mit der Kammerakademie Potsdam zu Gast. Und nun leitet er das erste Konzert, das das NDR Elbphilharmonie Orchester seit der großen Zäsur dort geben wird. Schlanke zehn Tage vor dem Projekt kam die Anfrage für das Projekt. Manacorda hatte Zeit. „Wir sind ja alle zu Hause“, sagt er beim Mittagessen nach der Probe lakonisch.

Manacordas Erfolg hat Geheimtippstatus

„Wir“, das sind die international gefragten Künstler, die den größten Teil des Jahres unterwegs sind. Unter normalen Umständen hätte die Anfrage Jahre Vorlauf gebraucht. Es gehört zu den Rätseln des Musikbetriebs, warum Manacorda trotz seines Erfolgs immer noch Geheimtippstatus hat. Vielleicht liegt das an seinem Werdegang, als Dirigent ist er nämlich ein Spätberufener.

Lange Jahre war er unter Claudio Abbado Konzertmeister des Mahler Chamber Orchestra, bevor er bei dem sagenumwobenen Finnen Jorma Pamula das Dirigieren lernte. 2006 legte er die Geige endgültig zur Seite. „Das war eine Befreiung! Geige ist so ein schweres Instrument“, sagt er halb im Scherz. Mittlerweile dirigiert er an den bedeutendsten Häusern. Debüts bei der Staatskapelle Dresden und den Berliner Philharmonikern stehen ins Haus, und als der Lockdown kam, steckte er gerade in einer Serie von Mozart-Opern an der Brüsseler Oper.

Manacorda lebt zwar seit vielen Jahren in Berlin, aber als Italiener ist ihm die Corona-Krise dennoch persönlich nahegerückt. Mitte März erfuhr er, dass ein Mitarbeiter seines Mailänder Agenten am Covid-19-Virus gestorben war. „Diesen Mann hatte ich drei Wochen zuvor bei der Brüsseler Premiere umarmt.“

Die unverhofft freien Wochen hat er aber auch als Chance erlebt: „Sonst habe ich mir immer nur eine Woche Urlaub im Jahr genommen. Jetzt hatte ich so viel Zeit! Ich konnte in Ruhe Partituren für kommende Projekte studieren. Ich weiß gar nicht, wie ich das vorher geschafft habe.“ Intensives Partiturstudium ist unabdingbar für ihn, aus der genauen Kenntnis des Notentexts speist sich die Freiheit seines dem Moment verhafteten Musizierens.

Das Konzert mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester ist auch Manacordas erstes seit dem Lockdown. Nur: Dieses Konzert findet nach den Regeln der Corona-Krise statt. Ohne Publikum. Am Dienstag wird es zur Eröffnung des Kartenvorverkaufs für die kommende Saison gestreamt. Neben der Schubert-Sinfonie stehen Werke von Bach und Pärt und ein Violinkonzert von Mozart mit dem Solisten Frank-Peter Zimmermann auf dem Programm, alles klein besetzt und so ausgewählt, dass möglichst viele Musiker zum Zuge kommen. Spielen ist ein Grundbedürfnis für sie, selten ist das so deutlich zu spüren wie an diesem Vormittag.

Es gibt ein Abstandsgebot in 19 Variationen

Jacken und Instrumentenkästen bilden bunte Farbtupfer in den Sitzreihen des Parketts. Stimmzimmer, Gruppengarderoben und Caféteria sind geschlossen. Betreten des Gebäudes nur mit Mundschutz; abgenommen werden darf er erst auf der Bühne; Aufenthalt in den Pausen nur im Parkett des Großen Saals; möglichst wenig Kontakt zu den Kollegen; essen, wenn überhaupt, nur allein. Und so weiter. Das Management hat ein Blatt mit detaillierten Regelungen ausgegeben, es ist ein Abstandsgebot in 19 Variationen.

Doch die Wärme, mit der die Musiker aufeinander zugehen, teilt sich auch über die leeren Sitzreihen hinweg mit. Im Orchester zu spielen, ist ein sozialer Beruf. Menschlicher und musikalischer Kontakt sind kaum zu trennen. Die Oboistin Beate Aanderud sagt über die digitalen Zusammenschnitte, mit denen viele Klangkörper über die Krise präsent zu bleiben versuchen: „Da fehlt etwas ganz Wesentliches: sich im Klang und in der Energie der anderen zu bewegen.“

Der neue Orchesteraufbau ist eine Herausforderung für die Musiker. „Ich fühle mich ein bisschen allein, ich höre mich selbst viel mehr als sonst“, sagt Aanderud. „Die Aufgabe ist, dass die Ohren wachsen.“ Und der Solocellist An­dreas Grünkorn beschreibt seine Erfahrung: „Dadurch, dass wir so weit voneinander weg sitzen, versuchen wir, mehr zu geben. Aber wenn man loslässt und weniger gibt, wird der Klang reicher und farbiger.“

Abstand zu Musikern fordert den Dirigenten

Auch der Dirigent ist anders gefordert. „Der Abstand ist ein Albtraum“, sagt Manacorda, „das Zusammenspiel ist harte Arbeit unter diesen Umständen. Mein Lehrer hat immer gesagt: Helfen Sie nur, stören Sie nicht. Jetzt bin ich als Dirigent wichtiger.“

Sein Selbstverständnis ist ungefähr das Gegenteil des altgedienten Mythos vom Pultdiktatoren alten Schlags. „Man muss als Dirigent nicht selbst Klang erzeugen, man muss kein Instrument spielen“, sagt Manacorda. „Aber man hat mit Seelen zu tun. Das kann keine Stradivari ersetzen!“

Diese Haltung spiegelt sich in seinem Probenstil. Seine Ansagen sind freundlich, klar und knapp, und immer wieder melden sich Musiker mit Anregungen zu Wort, ohne dass deshalb die Konzentration ausfransen würde. Beim letzten Satz der Sinfonie angekommen, schlägt ein Bratscher vor, versuchshalber im Stehen zu spielen. Der Unterschied ist verblüffend.

Lebendig und wandlungsfähig klang das Allegro vivace vorher schon, aber nun weht plötzlich ein anderer Wind hindurch, entwickelt der Satz eine Frische und Unbedingtheit, die die paar Zuhörer im Saal schier mitreißt. Ein Moment, wie er nur in der Live-Situation entstehen kann. „Jedes Stück soll so klingen wie bei seiner Uraufführung“, hat Antonello Manacorda sein Credo formuliert. Musik braucht Offenheit und Spontaneität.

Und sie braucht Nähe.