Hamburg. Der Hamburger Barock-Komponist (1681 – 1767) ist eine Lokalgröße – und doch ziemlich unbekannt. Völlig zu Unrecht.

Der womöglich wichtigste deutsche Kultur-Neubau des frühen 20. Jahrhunderts ist nur rund 1000 Meter Luftlinie vom Grab des berühmtesten deutschsprachigen Komponisten des 18. Jahrhunderts entfernt. Und obwohl diese beiden Prestige-Adressen die Postanschrift Hamburg eint, trennen Welten die frische Elbphilharmonie von der historischen Größe Georg Philipp Telemann. Der Vielschreiber, der mehr komponierte als Bach und Händel zusammen, markierte in seinen 46 Dienstjahren als „director musices“ die Hansestadt so mächtig auf der Musikwelt-Karte, wie man es jetzt, erst recht im Rathaus, von dem neuen Konzerthaus erwartet.

Dass der Barock-Komponist seine letzte Ruhe auch noch dort fand, wo jetzt ausgerechnet das Rathaus steht, macht die Sache nicht besser. Besser steht es ein Jahr vor einem Telemann-Jubiläum (250. Todestag im Juni 2017) auch nicht um ihn, wenn man bei der bescheidenen Gedenktafel links neben dem Eingang entdeckt, dass ein Gravurfehler beim Todesjahr unkorrigiert ist.

Der Hamburger Komponist Georg Philipp Telemann
Der Hamburger Komponist Georg Philipp Telemann © picture alliance

Und es wird auch nicht besser durch die an sich sympathische Tatsache, dass die Hamburgische Staatsoper – so etwas wie die Ur-Enkelin der barocken Bürgeroper am Gänsemarkt, die auch Telemann jahrelang leitete und für deren stückehungrigen Spielplan er rund 20 Opern schrieb – demnächst den „Orpheus“ von Telemann aufführt. Keine der wirklich bekannten Telemann-Opern, wobei ohnehin fast keine der sehr vielen Telemann-Opern wirklich bekannt ist und sich manche, bei aller Liebe, eher zu Stilstudienzwecken eignen würden. Vivaldi hat angeblich fast 100 Opern geschrieben, nur die Hälfte ist derzeit bekannt, doch schon mit diesem Arbeitsmaterial wurde ein kleiner, feiner Boom in der Fachwelt ausgelöst.

Barockes auf hohem Niveau

Telemann also an der Hamburger Oper, endlich wieder. Heimspiel, eigentlich. Dennoch: nur fast. Denn „Orpheus“ wird nicht im Großen Haus gegeben, nicht mit allem Drum und Dran, das man erwarten könnte, obwohl es auch nicht sein muss. Stattdessen auf der Probebühne Opera stabile, vor allem mit einem jungen Ensemble, mit dem Berliner Lwowski-Kronfoth-Musik­theaterkollektiv, das gern Teil seiner Inszenierung ist. Da könnte man vermuten, dass bei Georges Delnon und Kent Nagano das musikgeschichtliche Potenzial der Musikstadt Hamburg in seiner ganzen Bandbreite von Telemann bis Lachenmann nicht direkt im Mittelpunkt der Profilierungsbestrebungen steht.

Telemanns „Orpheus“ live auf CD hören

Der Dirigent René Jacobs hat mit seiner Version von Telemanns „Orpheus, oder die wunderbare Unbeständigkeit der Liebe“ eine mustergültige Einspielung vorgelegt.

Die Verständigung mit der Akademie für Alte Musik Berlin und dem RIAS Kammerchor über das musikalische Vokabular funktioniert bestens, die Besetzung (u.a. Dorothea Röschmann, Ruth Ziesak, Roman Trekel) ist stilsicher, die Präzision bestechend (harmonia ­mundi, ca. 14 Euro, 2 CDs).

­Typisch für den Aufführungsort Gänsemarkt-Oper ist die Mehrsprachigkeit – Telemann komponierte neben Arien mit deutschem Text auch Stücke in Französisch und Italienisch.

An der Opera stabileAn der Opera stabile hat „Orpheus“ Premiere am 8. Juli, 20.00, weitere Vorstellungen: 9.7., 10.7. (17.00), 12.,13., 15., 17.6. (jew. 20.00), Gr.Theaterstr. 25 (U Gänsemarkt). Wenige Restkarten (25 Euro) unter T. 35 68 68

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Inbesondere Nagano ist trotz seiner Bewunderung für Johann Sebastian Bach, die er immer wieder betont, nicht mit Herausragendem für deutsches Barockopern-Repertoire aktenkundig geworden. Seine Stärken und Vorlieben liegen, schön und gut und legitim, auf ganz anderen Gebieten. Die letzte Hamburger Telemann-Inszenierung, „Flavius Bertaridus“, liegt fast fünf Jahre zurück; von dramaturgischen Zusammenhängen oder gar Absichten, wie sie Simone Young mit drei Verdi-Raritäten hintereinander bestechend konsequent vorzeigte, kann nicht die Rede sein.

Zu wenig barocker Glanz in Hamburg

Mit der Frage, warum es in der Musikstadt Hamburg so klemmt mit barockem Glanz, ist man schnell bei Grundsätzlichem: Es gibt keine ausreichend etablierten und versierten Spezialisten-Ensembles wie die Balthasar Neumänner-Musiker in Freiburg oder die Akademie für Alte Musik in Berlin, weil es in Hamburg kein ausreichend großes Interesse an ihnen gibt. Was wiederum daran liegt, dass es sie hier nicht gibt.

Problemverschärfend kommt hinzu, dass ausgerechnet jener Hamburger A-Dirigent, der sich mit diesem Repertoire nachweislich bewährt hat, mindestens in den nächsten Jahren alle Hände voll mit ganz anderem zu tun haben wird. NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock kennt sich im Umgang mit so alten Meistern aus wie keiner der hiesigen Kollegen. Aber durch die Eröffnungssaison der Elbphilharmonie, für die der NDR das Residenzorchester stellt, ist sein Dienstplan übervoll. Schwer vorstellbar, dass die Oper ausgerechnet ihn einlädt, um Barockes zu dirigieren. Schön wär’s. Außerdem: Barockes auf hohem Niveau spielt man als Allround-Opern-Orchester nicht mal eben mit jener Routine weg, die man für späteres, gängigeres Repertoire pro­blemloser abrufen kann. Und was fürs Orchester schon gilt, gilt für ein Ensemble erst recht.

Damit bleibt für das Telemann-Jahr 2017 in Hamburg vor allem: Hoffnung. Auf ein Konzertwochende ums Todesdatum herum, dann auf etwas mehr im Herbst. Die Programmatik wird gerade unter der künstlerischen Spielleitung der NDR-Fachabteilung „Das Alte Werk“ erarbeitet. Große Festival-Pläne sehen womöglich anders aus. Doch große Festival-Pläne werden derzeit ja auch für andere Themen geschmiedet.