Hamburg. John Neumeier bot am Sonntag in der Staatsoper erneut Ballett auf allerhöchstem Niveau. Und das mehr als fünf Stunden lang.
Sieht ein nach 1980 geborener Mensch die Zeichenkombination XLI, hält er den letzten Strich bestimmt für überflüssig. XL heißt es doch, steht für Extralarge. XLI aber ist eine römische Zahl, sie steht für die 41. Dass auf der Eintrittskarte zum Ballettmarathon am Sonntag „Nijinsky Gala XLI“ stand, war ein vornehmer Hinweis darauf, dass diese Gala die 41. ihrer Art war. Trotzdem passt die Übersetzung der aus der Mode gekommenen römischen Zahlen in die Welt der Mode; denn XL, das sind diese ob ihrer Länge an Wagner-Musikdramen heranreichenden Nijinsky-Galas allemal; was John Neumeier seinen Fans und seinen Tänzern einmal im Jahr abverlangt, ist eigentlich sogar eher XXXXL. Diesmal dauerte die schöne Zumutung an Sitzfleisch und Schaulust fünf Stunden und 15 Minuten.
Neumeier moderierte den Abend gewohnt charmant, manchmal sehr witzig und in einem Deutsch, bei dem die Grammatik immer noch Chaos tanzt. Mit dem langen Reigen der Darbietungen wollte er zugleich das Thema der Spielzeit bilanzieren, die am Sonntag mit der Nijinsky-Gala ihr Ende fand (zumindest in Hamburg; gleich am Montag ging es für die Compagnie noch auf Gastspielreise nach Neapel): den „Geist der Romantik“. Dabei zog der Ballettchef den Begriff je nach Notwendigkeit mal ins Tanzgeschichtliche, wofür die Werke „Napoli“, „La Vivandière“ oder „La Sylphide“ standen, mal ins Musikalische, etwa bei Schuberts „Winterreise“ oder der „Kameliendame“, mal in die literarische Vorlage wie bei „Peer Gynt“, mal, wie bei den Auszügen aus „Verklungene Feste“, in die emotionale Qualität – das romantische Sehnen, Abschiede, Unerfülltes.
Das Reservoir an Top-Tänzern im Hamburg Ballett ist derart üppig, dass Neumeier den Abend mühelos mit Bordmitteln hätte besetzen können. Ein bisschen Flair von auswärts aber braucht so eine Gala, weshalb das Houston Ballet nach seinem Gastspiel vor ein paar Tagen vier seiner sprungstarken, enorm athletischen Tänzer zurückließ. Die von ihrem Chef Stanton Welch choreografierten Pas de trois („Clear“) und Pas de deux („Sons de l’âme“) zeigten erneut die große technische Akkuratesse und Musikalität der Solisten, vor allem von Jessica Collado und Chun Wai Chan. Doch das Bewegungsvokabular reichte über Formelhaftes kaum hinaus. Erst im letzten Pas de deux auf das Nocturne cis-Moll von Chopin ließ der Tanz das rein Körperlich-Virtuose hinter sich und wurde zum delikaten Beziehungsspiel.
Ästhetisch ungleich autonomer und mit virtuosem Rigorismus tanzten Qiu Yunting und Wu Sicong vom National Ballet of China ihre beiden von der chinesischen Choreografin Zhang Disha kreierten Pas de deux. Was an „Linen Braids“ romantisch war, erschloss sich zwar angesichts der geschmeidigen Abruptheit dieses fabelhaft getanzten, entschieden zeitgenössischen Pas de deux zu der düsteren Musik von Ryuichi Sakamoto nicht. Dafür waren die seltsam aus militärischem Drill und körperlichem Ausbruch gemischten Formen aufregend anders, selbst wenn die perfekte, harte Synchronität des Tanzpaars einen denken ließ, Mao und sein Ideal vom Milliardenvolk aus blauen Ameisen werde in China wohl niemals ganz sterben.
Auch das zweite Duett „How Beautiful Is Heaven“, bei dem ein weißes Kopfkissen als Requisit für Sterbenskrankheit und Tod diente, setzte als intensive und beklemmende Körperstudie an. Doch ab einem bestimmten Zeitpunkt musste sie sich dem Deutungsdiktat durch eine Stimme aus dem Off unterwerfen. Das war vielleicht kulturell begründet, nahm dem Tanz jedoch einiges an Wirkung.
In der „Kameliendame“ bot Svetlana Zakharova, Primaballerina des Bolschoi Balletts, eine hinreißend fließende, extrem akrobatische und dabei staunenswert gelassene Version der Marguerite Gautier. Der lange, „schwarze Pas de deux“ mit Edvin Revazov war einer der Höhepunkte der Gala, woran Revazov mit nobler, kraftvoller Präsenz und seiner aus unergründlich scheinenden Tiefen hervortretenden Innerlichkeit größten Anteil hatte. In seinen Händen und in seiner Energie wirkte Zakharova wie elektrisches Wachs.
Einen sehr zu Herzen gehenden Abschied gönnte Neumeier dem langjährigen Ersten Solisten Otto Bubenicek, der nach 22 Jahren die Compagnie verlässt. Das zweite Kapitel der Gala bestand aus nichts anderem als einem langen Auszug aus „Le Pavillon d’Armide“, womit Neumeier nebenbei auch dem Namenspatron der Gala seine Reverenz erweisen konnte. Bubenicek verkörpert im Stück den in der Nervenheilanstalt einsitzenden Tänzer Vaslav Nijinsky, vor dessen geistigem Auge Erinnerungen an vergangene Rollen und Partnerinnen vorüberziehen. Alexandre Riabko spiegelt dem umnachteten Insassen die unglaubliche Vitalität, mit der er einst als aktiver Tänzer der Ballets Russes das Publikum um den Verstand tanzen konnte. Die Begegnung mit seinem Choreografen Sergej Diaghilew – grandios getanzt von Ivan Urban – bringt den Kranken vermeintlich ins Tänzerleben zurück. Rührt die Tragödie einer Gestalt wie Nijinsky schon für sich ans Gemüt, schlug einen dieses Ballett durch die außergewöhnlich großartige Leistung der Tänzer in den Bann. Alle schienen für den scheidenden Otto alles geben zu wollen. Der letzte, unwahrscheinlich dynamische, fast halsbrecherisch rückhaltlos getanzte Pas de deux zwischen Bubenicek und Urban entfaltete eine Magie, von der man lange zehren kann.
Als Bubenicek zum finalen Adieu antrat, liefen ihm die Tränen über das Gesicht. Kollegen standen Spalier und verabschiedeten sich mit Blumen. Sogar sein Zwillingsbruder Jiri, der die Compagnie schon vor neun Jahren verlassen hat, war nach Hamburg gekommen und überreichte ihm eine Rose. Nun, da auch Otto sich freigemacht hat vom verehrten Übervater John Neumeier, werden die tollen Brüder wieder mehr Zeit haben, miteinander zu tanzen, zu kreieren, zusammen zu sein.