Hamburg. Das Abendblatt liefert Lektüretipps für alle, die mehr über die Spannungen zwischen Russland und dem Westen erfahren wollen.
"Putinversteher“ wollen die allermeisten nicht mehr sein, die in der jüngeren Vergangenheit dem autoritären russischen Präsidenten seinen aggressiven Nationalismus noch nachsehen wollten. Warum dieser Krieg der Russen vielleicht zwangsläufig war, wie das Riesenland im Osten wurde, was es ist, steht in vielen klugen Sachbüchern geschrieben. In Krisenzeiten wie der jetzigen droht die Wahrheit oft auf der Strecke zu bleiben.
Das Verständnis von Vorgängen, die Kenntnis von Dingen, das Nachvollziehenkönnen von Geschehnissen, Sach- und Faktenwissen: Im Zeitalter der Fake News ist das alles unverzichtbarer denn je für eine freie und demokratische Gesellschaft.
Bücher zum Thema „Russland“: Catherine Beltons „Putins Netz“
Es ist bis zu einem gewissen Punkt – der westlichen Fehleinschätzung Putins – erklärbar, warum die Lage in der Ukraine derzeit eskaliert. Und die viel zitierte „russische Seele“ findet sich in manchem Roman, weshalb auch Tolstoi helfen könnte. Das Abendblatt stellt im Folgenden einige Klassiker und neuere Bücher zum Thema „Russland“ vor.
Das aufsehenerregende Werk der ehemaligen Moskau-Korrespondentin der „Financial Times“, Catherine Belton, handelt vom KGB als Treiber russischer Politik. Belton gelang es, mit Kreml-Insidern zu sprechen, allesamt Leuten, die beim Ex-Agenten Putin und seinen Gefolgsleuten einst in Ungnade fielen. Es wird deutlich, wie groß der Machthunger Putins war und ist und wie sich der Präsident skrupellos ein taumelndes Land untertan machte, indem er auf ein Netzwerk aus KGB-Leuten und Kriminellen baute.
Mit vollem Titel heißt das Buch „Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste“. Deutlich wird vor allem, warum wir den Überfall auf die Ukraine völlig zu Recht als Angriff auf den Westen begreifen: Putin unterminiert die freie Welt seit Langem (HarperCollins, 26 Euro).
Swetlana Alexijewitsch: „Secondhand-Zeit“
Die 2015 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete belarussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch legte 2013 das beste Buch zum „Homo sovieticus“ vor: den Interviewband „Secondhand-Zeit“, in dem die auch viele Jahre nach dem Ende der Sowjetunion seelisch versehrten Russinnen und Russen zu Wort kommen. Ihr Leben in einem Staat, der immer noch einer Trümmerlandschaft gleicht, ist von einem emotionalen und ideologischen Chaos geprägt, wie es Menschen fremd bleiben muss, die im Kapitalismus aufgewachsen sind.
Die gegenwärtige mentale Verfassung vieler Russen spiegelt sich in diesen Lebensläufen, wie sie sich vor zehn Jahren entblätterten. Damals fing man in Russland an, Stalin zu verklären, und sehnte sich zurück nach schlechten Zeiten, die man aber für allemal besser hielt als das Heute (Suhrkamp, 11,99 Euro).
Angela Stent: „Putins Russland“
Dass der russische Angriff auf die Ukraine seit jeher zu den Zielen Wladimir Putins gehört hat, prophezeite die amerikanische Politikanalystin Angela Stent schon vor Jahren. In ihrem Buch „Putins Russland“ beschreibt sie auf beklemmende und fesselnde Weise, wie es ein KGB-Agent mittleren Ranges schaffen konnte, Russland zurück ins Spiel der Großmächte zu bringen – als aggressiven Gegenspieler Europas, der Nato und der USA.
Eine erhellende Lektüre, die mit der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 einsteigt und am Ende einen kühnen Ausblick wagt: auf einen russischen Staat ohne Putin. Angela Stent gilt als eine der besten Putin- und Russland-Kennerinnen der USA. Die 74-Jährige lehrt an der renommierten Georgetown-Universität in der Hauptstadt Washington (Rowohlt, 25 Euro).
Dietmar Neutatz: „Träume und Alpträume“
„Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert“ ist dieses Porträt der dramatischen jüngeren russischen Historie untertitelt. Es ist eine Geschichte, die wie die deutsche blutige Irrwege beschritt und auf verhängnisvolle Weise mit dieser verbunden ist. Dem verbrecherischen deutschen Vernichtungskampf gegen den Bolschewismus widmet der Historiker Neutatz nur eines von vielen Kapiteln. Weil so viel los war: Im 20. Jahrhundert ging die Zeit der Zaren zu Ende.
Dann kamen die Kommunisten, dann das Ende der Sowjetunion. Dieses Überblickswerk eignet sich zum portionierten Nachlesen. Aber in welcher Epoche man sich dabei auch befindet – der Eindruck, mit welcher Radikalität in diesem Land Politik gemacht wurde und wird, ist stets derselbe (C. H. Beck, 29,95 Euro).
Tim Marshall: „Die Macht der Geographie“
Hätte Wladimir Putin von einem Angriffskrieg russischer Truppen gegen die Ukraine abgelassen, wenn die beiden Staaten durch ein Gebirge getrennt wären? Vermutlich nicht. Selten ist die Geografie bei internationalen Konflikten DER Faktor – aber sie ist wohl der am meisten unterschätzte. Wie bedeutsam natürliche Barrieren und Ressourcen, Klima, Demografie und Kulturregionen auch heute für die Weltpolitik sind, erklärt der Journalist Tim Marshall anhand von zehn Karten in seinem Bestseller „Die Macht der Geographie“. Ein ausgezeichneter Einstieg ins Thema Geopolitik (dtv, 14 Euro).
Masha Gessen: „Die Zukunft ist Geschichte“
Was lief schief? Wie konnte es dazu kommen, dass ein Land, das vor gut 30 Jahren so hoffnungsvolle Schritte in die Freiheit unternahm, wieder zu einer nach innen wie außen aggressiven Diktatur wurde? Wen diese Frage interessiert, der sollte Masha Gessens Buch „Die Zukunft ist Geschichte“ lesen.
Anhand von vier sehr unterschiedlichen Lebensläufen schildert die in Moskau geborene US-Schriftstellerin die Jahre nach dem Umbruch. Besonderes Augenmerk widmet sie der Person Putin und der Frage, welche Kreise ihn mit welchen Mitteln an die Macht brachten. Eine faszinierende, verstörende Innenansicht (Suhrkamp, 14,95 Euro).
Klaus von Dohnanyi: „Nationale Interessen“
Noch vor wenigen Tagen hielten Schnellmeiner das Buch für entbehrlich – ein 93-Jähriger, der über „Nationale Interessen“ schreibt, galt als Gruß aus der Vergangenheit. Seit Donnerstag vergangener Woche wissen wir, dass es mehr mit unserer Zukunft zu tun hat, als uns lieb sein kann. Der frühere Außenpolitiker und Bürgermeister Hamburgs Klaus von Dohnanyi schreibt über die Macht der Geschichte und damit vorausschauend auch über den Krieg, den Putins Russland nun in der Ukraine vom Zaun gebrochen hat.
Er beschreibt die Einkreisungsängste und die Fehler des Westens, diese Sorgen nie ernst genommen zu haben. Er verteidigt nicht die Attacken des russischen Präsidenten, aber er gibt einen Einblick in die Ängste des Landes, die durch die NATO-Osterweiterung stets gewachsen sind. Und Klaus von Dohnanyi macht klar, dass jeder Staat nationale Interessen hat. Auch Deutschland – und das sich unsere Interessen eben nicht zwangsläufig mit denen der USA decken. Ein wichtiges Buch, das den Horizont erweitert, der in Zeiten des Krieges schnell schmaler wird (Siedler, 22 Euro).
Eric Hobsbawm: „Das Zeitalter der Extreme“
Das 1995 erschienene Buch über das „kurze 20. Jahrhundert“ vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion ist längst ein moderner Klassiker. Der Historiker und Weltbürger Hobsbawm -- geboren 1917 in Alexandria, aufgewachsen in Wien und Berlin, emigriert nach Großbritannien, wo er 2012 starb -- erzählt ebenso packend wie kenntnisreich über den Zusammenbruch der alten Weltordnung, den Wahnsinn des Totalitarismus und den Kampf der Ideologien.
Dabei stellt der bekennende Marxist (und scharfe Kritiker der Sowjetunion) die Auswirkungen der „großen Politik“ auf die Menschen in den Mittelpunkt. Hobsbawms Meisterwerk ist global angelegt, er behandelt ausführlich die Nicht-Industrieländer, die Kultur und die Naturwissenschaften. Ein Opus magnum, das den Blick weitet und hilft, die Welt zu verstehen, in der wir heute leben (dtv, E-Book 23,99 Euro).
Leo Tolstoi: „Krieg und Frieden“
Zur berühmten „russischen Seele“, zu der gerade wir Deutschen eine gewisse Nähe verspüren sollen, gehört, wie aktuell zu erfahren ist, anscheinend auch ein kriegerisches Beleidigtsein. Nun, die Tiefe der Empfindung ist ein Merkmal eines der größten Werke der Weltliteratur. „Krieg und Frieden“ erzählt aber vor allem von der Neigung zu Europa einerseits und andererseits von der Bedrohung durch den Westen, in diesem Fall Napoleons Armee. Gerade Deutsche sollten nie vergessen, dass Russland nicht immer nur einmarschierte, sondern es selbst erobert werden sollte (Hanser, zwei Bände, 58 Euro).
Horst Teltschik: „Russisches Roulette: Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden“
„Kreml-Astrologen“ nannte man früher Menschen, die zu erklären versuchten, was im Mittelpunkt der russischen Hauptstadt tatsächlich vor sich ging. Oft war das wenig mehr als Kaffeesatzleserei. Immerhin ist Horst Teltschik ein außenpolitisch ziemlich versierter Autor, der Berater von Ex-Kanzler Helmut Kohl und langjähriger Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz war. Er findet, dass die aktuelle Eskalationsspirale nicht selten an Sandkastenspiele trotziger Kinder erinnert. Und schlägt vor, die gegenwärtige Konfrontationspolitik der NATO müsse dringend durch Kompromissbereitschaft und Verhandlungsangebote ergänzt werden. Die muss die andere Seite dann aber auch hören wollen (C. H. Beck, 16,95 Euro).
Nino Haratischwili: „Das mangelnde Licht“
Es ist eine Nachricht, die in den vergangenen Tagen womöglich eher am Rande wahrgenommen wurde: Auch Georgien möchte der EU nun beschleunigt beitreten. Wer die postsowjetischen Staaten – eigentlich: das gesamte vergangene Jahrhundert aus einer östlichen Perspektive – verstehen will, ist mit Nino Haratischwilis Romanen „Das achte Leben (Für Brilka)“, „Die Katze und der General“ (Tschetschenien) und, ganz neu, „Das mangelnde Licht“, in dem unter anderem der Abchasien-Krieg eine wichtige Rolle spielt (alle FVA, 30–34 Euro) sehr gut beraten.
Wie auch andere Romane von in Deutschland lebenden Schriftstellerinnen den Horizont in Richtung Osten erweitern – beispielhaft genannt seien an dieser Stelle Natascha Wodin, Autorin und Übersetzerin ukrainisch-russischer Abstammung, und ihr vielfach ausgezeichnetes Buch „Sie kam aus Mariupol“, Olga Grjasnowas „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ und Lena Goreliks autobiografischer Roman „Wer wir sind“.
Buchtipp über Russland: Tim Weiner mit „Macht und Wahn“
Deutschland gilt seit jeher für Russland als „Übersetzer“ des Westens (und seiner Interessen). Derzeit gibt es da leider nichts mehr zu tun, weil Autokraten die Angewohnheit haben, auf niemanden zu hören. Der eigentliche Adressat russischer Politik sind immer die USA. Pulitzer-Preisträger Tim Weiner zeichnet in seinem Buch (Untertitel: „Der politische Krieg zwischen den USA und Russland seit 1945“) ein scharf konturiertes Bild dieser dominierenden Ost-West-Beziehung.
Die meist unfreundlichen Akte hinter den Kulissen, zuletzt auf die Spitze getrieben von der russischen Sabotage des US-Wahlkampfs, offenbaren sich dem Leser in diesem Buch dank etlicher Gespräche, die Weiner auf beiden Seiten mit Politikern und Kennern führte. Wie immer gruselig: die Macht der Geheimdienste, hier wie da. Apropos, ein Netflix-Tipp ist übrigens die Topserie „The Americans“ (S. Fischer, 26 Euro).