Hamburg. Manchmal ist die Realität interessanter als jede Fiktion – das zeigen auch diese drei Neuerscheinungen. Ein Blick ins Buch lohnt sich.
Blankenese war mal ein Zentrum des geistigen Lebens, lange ist’s her. Verantwortlich dafür war das einstige Powercouple der Kunst, Richard und Ida Dehmel. Genau, der Richard Dehmel (1863–1920), den heute eigentlich niemand mehr kennt und der vor mehr als 100 Jahren aber ein heftig verehrter Lyriker war. Der unerschrocken dichtete und damit oft die Wohlanständigkeit der Spießbürger angriff, kein Wunder, dass die jungen Avantgardisten zu ihm aufblickten.
Mit seiner zweiten Frau Ida (1870–1942), einer aus Bingen gebürtigen Kunstnetzwerkerin, empfing er im Dehmelhaus die Kunst-Größen seiner Zeit. Mit ihren persönlichen Biografien schrieben die beiden ihren eigenen Lebensroman, Jahrzehnte gemeinsam und nach seinem Tod getrennt.
Aufgeblättert: Drei lesenswerte neue Sachbücher
Die Hamburger Kulturwissenschaftlerin Carolin Vogel hat nun kundig den spannenden Band „‚Zwei Menschen‘. Richard und Ida Dehmel – Texte, Bilder, Dokumente“ (Wallstein, 29,90 Euro) zusammengestellt. In ihm findet sich ein Brief des Komponisten Arnold Schönberg an Richard Dehmel, in dem er dem Dichter gestand, „daß fast an jedem Wendepunkt meiner musikalischen Entwicklung ein Dehmelsches Gedicht steht“. Das waren noch Zeiten. Gedichte waren wirkmächtig!
Prosa und Lyrik zum Komplex des Glaubens
Das galt auch mal für die Kirche und den Glauben. Auch da war früher mehr Weihrauchlametta. Selbst ein Mann wie Wolf Biermann (feiert am Sonntag übrigens im Thalia Theater „Eine musikalische Geburtstagsfete zum 85sten“, Beginn 19.30 Uhr), der ja ganz nur an die Macht der Worte glaubt, fühlte sich berufen, zumindest die intellektuelle und künstlerische Auseinandersetzung mit Gott und „Gottes Bodenpersonal“ zu suchen. Was Letzteres angeht, ist die Geschichte von des späteren Wortberserkers, Kommunisten, Kommunistenhassers und Bänkelsängers Taufe im vor allem vergnüglichen Kompendium „Mensch Gott!“ (Suhrkamp, 22 Euro) ein schönes Fundstück.
Wie der kleine Wolf, dessen Vater ein nicht praktizierender Jude und praktizierender Kommunist war und 1942 in Auschwitz ermordet wurde, 1936 sicherheitshalber getauft wurde, um sein Leben vor den Nazis zu schützen. Mutter und Großmutter, keine Frauen Gottes, beömmeln sich bei der Zeremonie. Der Pastor, schreibt Biermann, war überzeugter Nazi und rettete dennoch jüdische Leben. Im Buch finden sich Prosa und Lyrik zum Komplex des Glaubens, der Meister kann vorzüglich spotten.
Eine Geschichte von Unterdrückung
Um Spott war es Ai Weiwei, einem der wichtigsten chinesischen Künstler der Gegenwart, eher selten zu tun. Mit seinem Werk kritisierte er die Mächtigen in seinem Land und die antidemokratischen Zustände. Damit wurde er zum Dissidenten und 2011 für 81 Tage inhaftiert. Bis 2015 durfte der Mann, der von 1981 bis 1993 in den USA gelebt hatte, China nicht verlassen. Danach lebte er in Deutschland und ist seit 2019 in Großbritannien ansässig. Jetzt ist Ai Weiweis autobiografisches Buch „1000 Freude und Leid“ erschienen (Penguin, 38 Euro), in dem er nicht nur seine Geschichte der Unterdrückung, sondern auch die seines Vaters erzählt.
Ai Qing, ein einflussreicher Dichter, wurde als einstiger Weggefährte Maos während der Kulturrevolution von diesem verbannt. Sein Buch schrieb Ai Weiwei für seinen eigenen Sohn, um „ihm ehrlich zu erzählen, wer ich bin, was das Leben für mich bedeutet, warum Freiheit so wertvoll ist und warum ein autoritäres Regime die Kunst fürchtet“.