Hamburg. Die Hamburgerin Julia Jessen war Schauspielerin, ist jetzt Schriftstellerin – und direkt für den Klaus-Michael-Kühne-Preis nominiert.

Frische Zweige auf einer Anrichte. Ein Automaten-Fotostreifen neben der Haustür. In der Küche trocknen die Milchsauger der kleinen Tochter. Die Terrassentür zum verblüffend riesigen Stadtgarten steht offen, davor im Wohnzimmer ein robuster Holztisch, an dem nicht nur die Familienmitglieder, sondern auch Gäste reichlich Platz finden, auf einem ausgedienten Turnkasten, der als Bank dient. Julia Jessens Barmbeker Wohnung wirkt so pragmatisch wie lässig und strahlt auf eine sympathisch zugewandte Weise vor allem eines aus: Hier wird gelebt. Womöglich sogar glücklich gelebt.

Man könnte eine Geschichte über Julia Jessen auch mit einem berühmten Tolstoi-Zitat beginnen. „Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ Es sind die ersten Sätze aus „Anna Karenina“, und sie würden Julia Jessens Debütroman „Alles wird hell“ emotional zwar ganz prima zusammenfassen, ihn in ihrer Wucht (Tolstoi!) aber gleichzeitig erdrücken. Das haben er, der Roman, und sie, die Autorin, nicht verdient. Denn stimmt diese Behauptung eigentlich? Ist nicht auch das Glück eine sehr individuelle Angelegenheit, die in jedem Leben, in jeder Familie immer wieder neu verhandelt werden muss?

Ein Familienroman also. Naheliegend, irgendwie, die meisten Menschen haben schließlich Familie, in der einen oder anderen Form. Und die meisten Familien sind eine Fundgrube für Schrullen, Konflikte, Geheimnisse – große und kleine Schrullen, lustige und gewaltige Geheimnisse. „Gewohnheiten in der Familie sind wie eine ansteckende Krankheit, denke ich“, formuliert Jessens Romanfigur Oda. Und es spricht aus ihr an dieser Stelle auch die pampige und unsichere Heranwachsende, die zu einer merkwürdigen Familien-Strandhochzeit geladen wird, auf der Uroma Betty kopfüber tot in die Suppe kippt. Eine durchaus prägende Erfahrung für die pubertierende Oda, die ausgerechnet an diesem Abend ihre Berufung als Tänzerin findet.

Julia Jessen, 41, lässt ihre Oda in verschiedenen Zeitebenen aus ihrem Leben erzählen. Da ist das Kind, das erstmals Grenzen austestet, da ist die überspannte 16-Jährige und das komplizierte Beziehungsgeflecht ihrer Verwandtschaft. Da ist – besonders genau getroffen, was am Alter der Autorin liegen mag – die müde Mutter um die 40, die sich bis zur Verzweiflung ein zweites Kind wünscht, und schließlich die alte, sentimentale Frau, die ihrem Partner zum selbstbestimmten Lebensende verhilft. Was Oda erlebt, ist dabei weniger entscheidend, als wie sie es erlebt. Wie sie beobachtet und wertet und zweifelt. Und wie wir, die Leser, daran teilhaben. Für jede Oda, für jeden Lebensabschnitt findet Jessen einen eigenen Tonfall und dennoch entsteht auch über den ganz großen Bogen eine stimmige Gesamtfigur. Man begleitet ihre Figur „beim Denken“, wie es Julia Jessen selbst beschreibt, die Oda bewusst „wie eine Kohleskizze“ gezeichnet hat, das farbige Ausmalen überlässt sie dem Leser.

Wie eine Ode an das Leben

„Ich finde es tröstlich, dass ein ganz normales Leben so einzigartig sein kann“, sagt Jessen und lächelt. Ein bisschen sieht sie dabei aus wie die junge Daniela Ziegler. Eine schöne, dunkelhaarige Frau mit schmalen, leicht schrägstehenden Augen, offenes Wesen, auffallende Präsenz.

Der Name ihrer Protagonistin ist nicht zufällig gewählt: Oda. Wie eine Ode an das Leben soll „Alles wird hell“ wirken, ohne diese Hymne dabei zu groß oder gar zu kitschig zu denken. Auffallend ist, dass neben Oda vor allem die anderen Frauenfiguren die starken, besonders klar getroffenen Charaktere im Roman sind. Odas schroffe Großmutter Hella mit den signalrot geschminkten Lippen, die spleenige Urgroßmutter, die sanfte Mutter. Oda selbst wird Tänzerin, eine Frau, die sich über den Körper ausdrückt, die den Tanz als Ventil und Sprache nutzt, um ihr Inneres und ihr Äußeres halbwegs deckungsgleich zu bekommen.

Auch Julia Jessen hat einen Beruf gelernt, der viel mit Bauchgefühl und Intuition zu tun hat: Sie ist Schauspielerin. Oder vielmehr: Sie war es, sie durchlief die Ausbildung in Hamburg, hatte eine Agentin, hat zuletzt (unter anderem) in einem der Wotan-Wilke-Möhring-„Tatorte“ des NDR eine Episodenrolle gespielt, sie hat Schauspielschüler unterrichtet und tut das noch immer. Den Vertrag mit ihrer Agentur allerdings hat sie mittlerweile gekündigt, obwohl gerade wieder ein Rollenangebot eingetrudelt war. „Die Schauspielerei habe ich gekappt“, sagt Jessen, und es klingt keinen Moment lang bedauernd. „Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, weiterzumachen. Aber nicht klüger.“ Ein guter Satz. Denn obwohl sie jahrelang damit gehadert hat, die Worte „Ich bin Schauspielerin“ auszusprechen, fällt ihr gleich beim ersten Buch das Bekenntnis „Ich bin Schriftstellerin“ leicht. „Ich glaube, das war ich einfach schon immer.“ Achselzucken, ein Lächeln. „Ich hätte das schon sagen können, bevor ich das Buch geschrieben habe. Mir ist das erschreckend leichtgefallen. Ich bin Schriftstellerin.“ Es klingt weder überheblich noch kokett.

Als sie mit dem zweiten Kind schwanger ist, schreibt sie endlich ihren Roman

Im Grunde lag das Schreiben immer näher als die Bühne: Julia Jessens Vater, Joachim Jessen, hat ebenfalls Bücher geschrieben und führt noch immer eine Literaturagentur, die jetzt auch die Tochter betreut. Ihr Bruder ist Philipp Jessen, Chefredakteur bei „stern.de“. Das Schreiben liegt, wie man in solchen Fällen so sagt, in der Familie. „Meine früheste Kindheitserinnerung ist: Mein Vater klappt ein Buch auf und riecht.“ Den Schlenker in der Biografie hat Julia Jessen trotzdem gebraucht: „Ohne das, was vorher gewesen ist, wäre ich nicht dorthin gekommen, wo ich jetzt bin. Ich hatte einfach plötzlich das Gefühl, ich habe eine Tür aufgemacht. Die richtige.“ Als sie mit dem zweiten Kind schwanger ist, schreibt sie endlich den lang überlegten Roman. Eine Woche vor der Geburt ist das Buch verkauft, an den renommierten Münchner Verlag Antje Kunstmann.

Auch der zweite Roman ist fertig und im Lektorat, der dritte im Entstehen. „Das ist den Kindern geschuldet. Ich war mit den ersten Büchern richtig schnell. Disziplin!“ sagt Julia Jessen und muss darüber selbst lachen. „Und wenn es für die Tonne ist: Ich setze mich jeden Tag hin und schreibe. Von 9.45 bis 13.25 Uhr.“ Manchmal legt sie sich flach auf den Fußboden und macht „eine innere Collage von jeder Figur“. Ein „anderes Leben durchwandern“, nennt sie das. Solche Bekenntnisse klingen bei ihr weder esoterisch noch sonst irgendwie seltsam, sondern bemerkenswert schlüssig. Die innere Ruhe, das Richtige zu tun, diese Aufmerksamkeit der eigenen Stimme gegenüber, das teilt die Autorin mit ihrer Romanfigur. Aber Oda tastet, sie sucht. Julia Jessen ist offensichtlich angekommen.

Julia Jessen liest am 29.8., 18 Uhr, in Lüders Buchhandlung (Heußweg 33) und am 10.9., 19 Uhr, im „Debütantensalon“ des Harbour Front Literaturfestivals im Nochtspeicher aus „Alles wird hell“ (Kunstmann, 288 S., 19,95 Euro). Der Roman ist für den Klaus-Michael-Kühne-Preis nominiert.