Kein US-Amerikaner und kein Schriftsteller: Der Nobelpreis für Literatur bleibt im Land und geht an Schwedens berühmtesten Lyriker.

Stockholm. Lange musste die Öffentlichkeit warten, lange wurden in den Wettbüros viele andere Namen gehandelt. Dann, am Donnerstagmittag, verkündete die Schwedische Akademie ihre Entscheidung für den Literaturnobelpreis 2011: der schwedische Dichter Tomas Tranströmer. Er weise dem Leser "in komprimierten, erhellenden Bildern neue Wege zum Wirklichen“, begründete die Akademie. In seiner Heimat gab es Jubel, dass der schwer kranke 80-jährige Lyriker Tranströmer endlich den wichtigsten Literaturpreis der Welt bekommt. In Deutschland, wo sein Name weniger bekannt ist, freute sich der Hanser Verlag für seinen Autor. Sonst blieb das Echo am Donnerstag verhalten.

Tranströmer selbst freute sich über die "schöne Nachricht“: Bei einer improvisierten Pressekonferenz sagte der sprachbehinderte Dichter mit Hilfe seiner Ehefrau Monica Bladh-Tranströmer: "Ich habe vor allem gehofft, dass es diesmal ein Lyriker wird.“ Der Nobelpreis ist mit umgerechnet 1,1 Millionen Euro dotiert. Er wird traditionell am 10. Dezember in Stockholm überreicht, dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel (1833-1896).

"Tranströmer ist einer der größten Poeten unserer Zeit“, sagte Akademiesprecher Peter Englund, nachdem er den Namen in der Alten Börse in Stockholm verkündet hatte. Spontan brach Applaus aus. In einem Interview sagte Englund: "Man fühlt sich nie bedeutungslos, wenn man Tranströmer gelesen hat.“ Die schwedische Nationalität sei eher ein Handicap für den langjährigen Favoriten gewesen, sagte Englund. Für die Akademie sei es heikel, wenn sie den Ruf bekomme, einheimische Talente auszuzeichnen.

Deutschlands bekanntester Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sagte, er kenne Tranströmer nicht. „Ich habe keine Ahnung, wer der Lyriker ist“, erläuterte der 91-Jährige. Reich-Ranickis langjähriger Wunschkandidat für den Nobelpreis, der US-Autor Philip Roth, ging auch dieses Mal wieder leer aus. Der Literaturkritiker Denis Scheck sprach von der "besten Wahl nach Philip Roth“ und sagte weiter, Tranströmer habe "die Möglichkeiten der Lyrik als Erkenntnismittel genutzt und erweitert“. Er sprach zudem von einem "großen Tag“: "Der Nobelpreis bleibt zuhause und ist dennoch nicht provinziell geworden. Ich gönne ihm den Preis von Herzen.“

Der Literaturjournalist Wolfgang Herles sagte, die Wahl Tranströmers sei, was dessen Qualität und Bedeutung angehe, absolut in Ordnung. Der Schwede habe eine gute Beobachtungsgabe und eine ganz feine Sprache. Aber man hätte auch jemanden von einem anderen Kontinent wählen können, zum Beispiel den syrischen Dichter Adonis, der auch etwas politischer schreibe. Dass nach vielen Jahren wieder ein Dichter die Auszeichnung erhalten habe, bezeichnete Herles, der die neue ZDF-Literatursendung "Das blaue Sofa“ moderiert, als "gute Wahl“.

"Wir haben als Familie überhaupt nichts vorbereitet. Jetzt müssen wir wohl mal ein paar Vasen für all die Blumen kaufen“, sagte Tranströmers Tochter Paula in Stockholm. „Tomas ist unglaublich froh, aber auch überwältigt“, berichtete seine Frau. Nach mehreren Schlaganfällen hat der Poet sein Sprachvermögen weitgehend verloren. Seitdem arbeitet seine Frau mit ihm an seinen Werken.

Tranströmer ist seit 1901 der achte Schwede, dem der Literaturnobelpreis zuerkannt worden ist. Insgesamt ist er der 108. Preisträger. In einigen Jahren waren auch zwei Autoren ausgezeichnet worden, so 1974, als der Preis zuletzt nach Schweden ging: an Eyvind Johnson und Harry Martinson.

Tranströmers Gedichtbände sind in rund 50 Sprachen übersetzt. In Deutschland ist seine Lyrik und auch seine Autobiografie beim Hanser Verlag erschienen. „Es ist großartig, schlicht überwältigend“, sagte Verlagssprecherin Christina Knecht in München. Sie sprach von einer „beglückenden Entscheidung“. „Wir müssen sofort nachdrucken.“

Das Gesamtwerk des Poeten, das als eher unpolitisch gilt, besteht aus weniger als 100 Texten. Tranströmer kommt aus einer Journalistenfamilie und studierte in den 50er Jahren Psychologie, Literatur- und Religionsgeschichte in seiner Geburtsstadt Stockholm. Seinem erlernten Beruf als Psychologe blieb er bis zu einem schweren Schlaganfall im Jahr 1990 treu.

Wer gehofft hatte, der wichtige Literaturpreis gehe 2011 an einen US-Amerikaner, vielleicht sogar an den Rockpoeten Bob Dylan, wurde durch die Entscheidung enttäuscht. Auch die Spekulationen, dass wegen des arabischen Frühlings ein Autor aus Nordafrika oder dem Nahen Osten gute Chancen habe, erwiesen sich als falsch.

Schon wenige Stunden vor der Entscheidung stand Tranströmer dann überraschend an erster Stelle beim britischen Wettbüro Ladbrokes. Zocker hatten aber auch eine zeitlang Bob Dylan oder den syrisch-libanesischen Poeten Adonis vorne gesehen. Im vergangenen Jahr bekam der Peruaner Mario Vargas Llosa den Literaturnobelpreis. Letzte deutschsprachige Gewinner waren Herta Müller im Jahr 2009, Elfriede Jelinek 2004 und Günter Grass 1999. Grass hatte sich für dieses Jahr den Israeli Amoz Os gewünscht.