Das diesjährige Gastland der Buchmesse ist reich an Talenten - deren Stimmen im eigenen Land häufig nicht gehört werden sollen.
Hamburg. "Die Erfahrung ist wie eine Laterne im Rücken", sagte Konfuzius, "sie beleuchtet stets nur das Stück Weg, das wir bereits hinter uns haben."
Die Organisatoren der deutschen Buchmesse 2009 sind schon um eine Laterne reicher: Das diesjährige Gastland China sorgte bereits im Vorfeld der Messe für einen bundesweiten Eklat. Die offizielle China-Delegation wollte nicht dulden, dass auf einem Auftakt-Symposium in Frankfurt unangekündigt auch zwei regimekritische Autoren auftreten sollten. Sie wurden aus- und dann doch wieder eingeladen. Erwartungsgemäß zeigten sich Chinas Offizielle brüskiert: "Wir sind nicht gekommen, um uns in Demokratieunterricht belehren zu lassen", zürnte Ex-Botschafter Mei Zhaorong. Buchmesse-Direktor Jürgen Boos entschuldigte sich bei der China-Delegation.
Und prompt brachen alle alten Gräben wieder auf. "Zensiert China jetzt bei uns?", fragte "Die Welt". Der Umgang mit einem Gast, der gerade im Kultur- und Medienbereich permanent Recht und Kontrolle behalten will, ist nicht leicht. Peking hat, genau wie vor den Olympischen Spielen 2008, im Vorfeld vorgesorgt: Regimekritiker oder auch nur provokative Autoren, die nicht ins offizielle "Harmonie"-Schema der KP gehören, dürfen nicht zur Buchmesse ausreisen.
m Gegenzug kommen allerdings im Beiprogramm der Messe auch zahlreiche kritische Stimmen zu Wort, unter anderen Nobelpreisträger Gao Xingjiang und der Künstler Ai Wei-wei. Chinas Regierung kann das Markenzeichen "China" also nicht für sich allein reklamieren. Der Kulturwissenschaftler Martin Roth, der als Generaldirektor der staatlichen Kunstsammlungen Dresden schon viele Kooperationen mit China abschloss, plädiert denn auch dafür, den Ball flach zu halten: In Deutschland verfalle man allzu bereitwillig in Pauschalkritik. Veränderungen erreiche man aber nicht durch erhobene Zeigefinger, sondern "durch einen stetigen, vertrauensvollen Dialog mit China".
Dort ist der Buchmarkt - trotz aller Zensur - in rasante Bewegung geraten. Zwar gibt es bisher nur 570 staatliche Verlage, die allesamt Behörden unterstellt sind. Aber immer mehr kleine Verlage entstehen unter dem Deckmantel von Kultur-Agenturen. Gerade bei Kinder- und Jugendbüchern öffnet sich ein riesiger Lizenzmarkt.
Und die Buchmesse bietet auf dem Gebiet chinesischer Gegenwartsliteratur auch eine ganze Reihe interessanter Neuerscheinungen auf Deutsch, die nichts mit Propaganda zu tun haben. Junge Autoren wie der 31-jährige Xu Zechen geben einen Eindruck davon, wie dramatisch sich China verändert: Illusionslos schildert Xu in seinem Roman Im Laufschritt durch Peking (Verlag S. Fischer), wie sein Held Dunhuang das große Geld machen will und im Haifischbecken der Megastadt durch Beziehungen und Gelegenheitsjobs taumelt.
Zweifelsfrei hat China viele starke Talente, die im Ausland, aber nicht daheim zum Zuge kommen. Dazu gehört zum Beispiel der Autor Yan Lianke (51), der in seiner frivol-ironischen Liebesgeschichte Dem Volke dienen (2005) die "Mao-Bibel" aufs Korn nimmt und in Der Traum meines Großvaters (2006, beide bei Ullstein) einen Aidsskandal zum Thema macht. Beide wurden von der Zensur kassiert. Dennoch glaubt Yan Lianke, die Praxis der Zensur habe sich verändert: Deren Richtschnur sei nicht mehr klar erkennbar, sagt er.
Zu den ganz großen Entdeckungen zählt sicher der 1960 geborene Autor Yu Hua, der in der mal krassen, mal komischen Familiensaga Brüder vom Auf und Ab nach den Wirtschaftsreformen erzählt und dabei die zum Teil grotesken Veränderungen im Leben von Kleinstadtbewohnern skizziert.
Besonderes Aufsehen erregte der Schriftsteller Liao Yiwu (51), dem erneut die Ausreise verboten wurde. Seine Interviewsammlung Fräulein Hallo und der Bauernkaiser (S. Fischer) ist ein beachtliches Stück Oral History. Fast 20 Jahre lang interviewte er Toilettenputzer, Prostituierte, Dorfschullehrer, Straßenkünstler, Verfolgte und Angehörige aussterbender Berufe. Eine Falun-Gong-Anhängerin etwa erzählte ihm vom "Umerziehungslager", ein "Totenrufer" berichtet von traditionellen Bestattungsritualen. Liao gilt nach einem kritischen Gedicht über das Blutbad auf dem Tienanmen-Platz 1989 als Dissident. Aber seine Gespräche, obzwar etwas altmodisch geführt, geben Einblicke in die unglaublichen und dramatischen Umwälzungen im Leben der kleinen Leute, die nirgends sonst eine Stimme haben.