Berlin. Hirokazu Kore-eda wandelt auf den Spuren von „Rashomon“: „Die Unschuld“ ist ein virtuoses Drama aus drei verschiedenen Perspektiven.
Anfang steht ein Wohnhaus in der Stadt lichterloh in Flammen, am Ende gibt es einen Orkan samt Erdrutsch. Die beiden Katastrophen geben damit schon mal den Takt vor für die Dramen, die im Film „Die Unschuld“ dazwischen stehen. Und die ebenfalls einen Sturm, aber ganz anderer Art, heraufbeschwören.
Das Grauen einer Mutter: Ihr Sohn wird vom Lehrer missbraucht
Anfangs bestaunen Saori (Sakura Ando), eine alleinerziehende Mutter, und ihr Sohn Minato (Soya Kurokawa) das Feuer vom Balkon aus. Da scheint ein Drama noch weit weg von ihnen. Aber dann kommt der Sohn verletzt nach Haus. Und als die Mutter wissen will, wieso, wirft er sich aus einem fahrenden Auto.
Im Krankenhaus meint er, sein Lehrer habe ihn beleidigt und geschlagen. Eine Horrorvorstellung für jede Mutter. Erst recht, als sie die Direktorin und die anderen Lehrer damit konfrontiert und auf eine Wand des Schweigens stößt. Auch Minatos Lehrer, Herr Hori (Eita Nagayama), verteidigt sich nur halbherzig. Und das schürt die Wut. Die der Mutter, aber auch der Zuschauer.
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Dann aber geht der Film noch mal zurück zur Feuersbrunst. Und erzählt eine andere Geschichte. Die von Herrn Hori. Und da stellt sich plötzlich alles ganz anders dar. Da erweist sich Minato als Problemkind und der Lehrer als ganz zugewandt, der den Jungen bei einem Ausraster beruhigen will und dabei nur versehentlich verletzt. Physische Gewalt verüben hier andere: die Lehrerkollegen nämlich, die von Hori ein Geständnis erpressen wollen, damit nicht die ganze Schule ihr Ansehen verliert.
Lauter Dramen, die sich in einem Orkan entladen
Sind die Vorwürfe alle nur erfunden, ist Minato ein Lügner, der absichtlich die Wahrheit verdreht? Noch einmal geht der Film auf Anfang zurück, wieder zum Feuer, das, wie man schon ahnt, absichtlich gelegt wurde. Und nun wird die Geschichte des Fünftklässlers selbst erzählt: wie sich eine zarte Freundschaft zu seinem Klassenkameraden Yori (Hinato Hiiragi) entwickelt, der von allen anderen Schülern gemobbt wird. Und wegen dem auch Minato bald gemobbt wird. Eine Freundschaft, die nicht sein darf. Die beiden Jungen bauen sich eine geheime eigene Welt in einem abgestellten Zugabteil. Mitten an einem Kanal, der dann beim Orkan geflutet wird.
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Das Konzept dürfte vielen bekannt vorkommen. Der japanische Altmeister Aki Kurosawa hat es einst bei „Rashomon“ (1950) angewendet, einem Meilenstein der Filmgeschichte, in dem ein Gewaltverbrechen aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt wurde.
Die Botschaft: Es gibt nicht nur eine Wahrheit
Sein Landsmann Hirokazu Kore-eda, seit seinem mit vielen Preisen gekrönten Film „Shoplifters“ (2018) selbst international bekannt, zitiert den Meister, um einmal mehr zu unterstreichen, dass es nicht die eine Wahrheit gibt. Bei ihm leidet jeder still für sich allein in seinem eigenen Drama – weshalb die anderen gar nicht wahrgenommen werden. Lauter Splitter und Puzzleteile, die sich erst am Ende zu einem großen Ganzen fügen.
Virtuos spielt der Regisseur hier mit der Wahrnehmung. Wobei seine raffinierte Dramaturgie, für die er in Cannes mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet wurde, nicht zum Selbstläufer-Effekt verkommt, sondern sich ganz in den Dienst der Geschichte stellt. Mit einer einfachen und doch immer wieder wichtigen Botschaft: sich erst mal alle Standpunkte anzuhören, bevor man ein Urteil fällt. Wer den belgischen Oscar-Kandidaten „Close“ von 2022 gesehen hat, wird indes noch ein ganz anderes Déjà-vu haben.
Drama Japan 2023, 127 min., von Hirokazu Kore-eda, mit Sakura Andô, Eita Nagayama, Soya Kuro- kawa, Hinato Hiiragi