Ein junger Provinzschwuler zieht in die Stadt und wird zum „Sauhund“: Lion Christs Buch ist eins der schönsten Romandebüts des Jahres
Es kommt wahrlich nicht alle Tage vor, dass einem Roman die Titelzeile eines Gitte-Schlager vorangestellt wird: „Ich will alles“. Und dann mit einer Kontaktanzeige beginnt: „Wehrersatzdienstleistender (21), naturschlank, große Augen (kirschholzbraun), sucht liebevollen Freund“, aber nur „bis allerhöchstens Ende 20“. Und dann erst der Buchtitel: „Sauhund“. Reißerisch, giftig, provokativ schreit, ja bellt er einem förmlich vom Buchtisch entgegen. Aber vielleicht muss man zu solchen Verbalinjurien greifen, wenn man als Autor einen kreuzbraven Namen trägt.
„Sauhund“ jedenfalls ist das Romandebüt von Lion Christ. Und es ist eins der großartigsten, kraftvollsten Debüts des Jahres. Ein Coming-of-Age- und Coming-Out-Drama über einen jungen Mann, der endlich sein wahres Ich ausleben will. Egoistisch, selbstverliebt und rampensäuisch. Und damit alle vor den Kopf stößt. Ein Antiheld, eine fiese, ja hundsföttische Figur. Und doch erliegt man ihr, denn sie hat Charme und Witz. Und bald schon mag man das Buch, das in erznarzisstischer Ich-Ich-Ich-Form geschrieben ist, nicht mehr aus der Hand legen.
„Ich will alles“ – ganz wie in dem Schlager von Gitte
Dieses Ich, dieses Ego heißt Flori und träumt von der großen weiten Welt. Wovon die verschlafene, oberbayrische Provinz, in der er lebt, ziemlich weit weg ist. Zumal 1983, als es noch keinen internetigen Blick in die Welt gibt. Fort will er, der Flori, in die Stadt, sein Schwulsein ausleben, das er hier tunlichst verstecken muss, und sich als Künstler selbst verwirklichen. Nur hat der junge Mann dazu leider so gar keine Ambition.
Geh fort, mach was aus dir: Das rät ihm zum Abschied die Lieblingsdame im Altenheim, wo er 20 Monate Zivildienst geleistet hat. Er spickt dabei aber lieber sehnsüchtig nach dem Pelzmantel, der in ihrem Schrank baumelt und den sie doch gar nicht mehr trägt. Wie ihm der stehen würde!
Flori arbeitet dann aber erst mal wieder antriebslos im Loisach-Kaufhaus, wo er schon früher gejobbt hat. Und lässt da das eine oder andere Damenkleid mitgehen, das er dann daheim vor dem Spiegel anprobiert. Bis ihn dann erst die Mutter beim Anproben erwischt und dann auch noch die Chefin beim Klauen.
Flucht aus der Provinz in die Großstadt. In die schwule Subkultur
So macht sich der Flori schmählich davon. Haut ab. Und tischt seiner Mutter, die ihn auch noch bei seiner frühmorgendlichen Flucht erwischen muss, Lügen auf. Verabschiedet sich noch nicht mal vom Förgi-Georg, den Dorfschönen, der ihn früher in der Schule verprügelt hat, mit dem er aber gerade sowas wie eine erste Beziehung erlebt hat. Aber halt immer nur heimlich, weil’s keiner mitkriegen darf.
Stattdessen geht es in die große Stadt. Nach München. Zu Theresa, mit der er während der Schulzeit ganz dicke war. Auch wenn er sich danach nie wieder bei ihr gemeldet hat. Jetzt aber steht er vor ihrer Tür, unangemeldet. Nistet sich bei ihr ein. Und stürzt sich erwartungsfroh ins Nachtleben, vor allem in die schwule Subkultur, die hier brodelt. Um endlich sein wahres Ich, das er immer verbergen musste, ausleben zu können. Ohne Rücksicht auf Verluste allerdings. Wie im Gitte-Schlager will er alles.
Das Leben ist kein Denver-Clan. Der Protagonist steht buchstäblich im Regen
„Sauhund“ ist sozusagen die moderne, schwule Variante des Schullektürenklassikers „Aus dem Leben eines Taugenichts“. Denn der Flori ist ein echter Parasit. Der sich bei Theresa einnistet, aber nie einen Job sucht. Der sich lieber aushalten lässt von der besten Freundin. Sogar ihr Make-Up benutzt, um sich rauszuputzen. Und sie dann für die erstbeste Zufallsbekanntschaft stehen lässt. Als sie ungewollt schwanger wird, kneift er auch als Ersatzvater.
Aber das Leben ist kein Denver-Clan. Bald setzt ihn Theresa vor die Tür. Und so irrt der Flori durch die Stadt. Und durch die Straßen. Landet in einer billigen Bar, wo er sich von einem älteren Herrn einladen lässt. Welch Ironie: Da kommt einer ganz unten an und schaut doch hochmütig immer noch auf andere herab, auf die „Strichjungs“ des Ladens. Und wird doch selber einer. Bis er ganz in der Gosse und im Regen steht. Buchstäblich.
Aber dann erscheint eine gute Fee. Wie im Märchen. In Form von Marilyn Monroe. Wenn auch einer falschen. Denn es ist eine Dragqueen, die ihn aufliest. Und mit zu sich nach Hause nimmt. Das ist kein Denver-Palast, aber doch eine mondäne Wohnung. Hier lebt sein Retter mit einem Mann zusammen. Fast könnte das so was wie eine Ersatzfamilie werden. Aber wird Flori endlich seinen Weg machen oder wird er es wieder verpfuschen? Denn er läuft ja immer nur fort. Wie aber kommt so jemand irgendwo an, geschweige denn bei sich selbst?
Ein längst vergangenes Jahrzehnt lebt hier wieder auf
Dieses Debüt ist wahrlich staunenswert. In mehrerlei Hinsicht. Denn Lion Christ, der „Ende der neunziger Jahre“ geboren wurde – genaueres verrät der Verlag nicht, er ist aber immerhin noch ziemlich jung –, dieser Novize schreibt hier mit einer Selbstsicherheit, als habe er nie etwas anderes getan. Schreibt ganz aus der Sicht eines jungen Menschen, mit großen, staunenden Augen und einem noch begrenztem Horizont, aber ganz im Hier und Jetzt im fiebrigen Präsens. Mit einer rotzigen, koketten, jungen Sprache. Die immer auch mit dem bayrischen Idiom spielt. „Mei, man wurstelt sich halt so durch.“ Aber auch ganz feine Metaphern findet. Redet etwa jemand Flori ins Gewissen, dann ist diese Stimme nicht einfach eiskalt, nein, sie ist gleich „die Isar im Januar“.
Und dann gibt es zwischen den Kapiteln, wie kleine Verschnaufpausen, Briefe, die nie abgeschickt werden, aber auch Kontaktanzeigen aus dem „Adam“, einem Schwulenmagazin, das längst eingegangen ist und von einer anderen Zeit kündet. Als die die Szene noch auf solche Weise anonym kommunizierte hat und nicht über Grindr oder andere digitale Netzwerke.
Und dann staunt man noch mehr, weil da ein junger Mann die Münchner Schwulenszene der 80er-Jahre beschreibt, von der er ja nichts mitbekommen haben kann. Und die er doch beschreibt, als sei er dabei und mittendrin gewesen.
Da staunt der Rezensent. Der war Anfang der 80-er auch so alt wie der Protagonist. Und hat, wenn auch nicht so sauhündisch, doch seine ersten Schritte in die Subkultur einer Großstadt gemacht. Woher weiß der junge Autor das, wieso kann der das so schildern, dass man sich selbst in seine eigene Jugend zurückkatapultiert fühlt?
Man muss den Autor vor dem Verlag in Schutz nehmen
Und dann war da ja, bei all dieser Selbstverwirklichungs- und -erweckungseuphorie endlich unter seinesgleichen, immer auch die Angst. Wegen dieser Krankheit aus den USA, für die es anfangs keinen Namen gab, von der man aber verstörend lesen sollte, wie sie sich bald auch in der deutschen Szene ausbreitete.
Gerade erst das Coming-Out absolviert, endlich zu sich selbst gefunden – und dann ist die nahe Zukunft doch nur ein Wink des Sensenmannes? Auch in Christs Roman schwingt diese Angst mit, wird wird immer greifbarer und ändert die Tonlage.
Man muss Lion Christ hier ein bisschen vor seinem Verlag in Schutz nehmen. Der Roman spiele „im München von Franz Josef Strauß und Freddie Mercury“, heißt es im Klappentext. Aber weder der Politiker (gottlob) noch der Popstar (schade) treten hier auf. Das Buch setzt auch nicht, wie es der Umschlagtext verheißt, „all den vergessenen Liebenden des ersten AIDS-Jahrzehnts ein rauschhaftes Denkmal“. Das wäre zu hoch gegriffen. Autoren können nichts für Klappentexte. Christ jedenfalls bleibt klug und bescheiden bei seiner zwiespältigen Ich-Figur.
Aber ein längst vergangenes Jahrzehnt lässt er schon auferstehen. Mit allen Verheißungen und Ernüchterungen. AIDS hat seinen Schrecken ein wenig verloren. Und auch in der Akzeptanz von queeren Menschen hat sich einiges getan. Aber wirklich so viel? Manch reaktionäre Reaktion, wie man sie aus dem Buch liest, kann man auch heute noch überall erleben. Und so dezidiert das Buch in einer vergangene Ära spielt, ist sein eigentliches Thema doch ein immerwährendes: Das Zu-sich-selber-Finden, irgendwie.