Berlin. In seinem neuen Film „Passages“ erzählt US-Regisseur Ira Sachs von einem queeren Beziehungsdrama. Und wohl auch viel von sich selbst.

Gewöhnlich läuft es ja andersrum. Ein Mann ist verheirat, vielleicht sogar Familienvater, und verlässt seine Lieben für einen anderen Mann. Plötzlich und unerwartet, wie die Angehörigen dann meist behaupten. Obwohl da einer vielleicht sein Leben lang mit seinen Gefühlen rang. Und seine Lüge nicht mehr leben konnte. Aber damit ein Chaos anrichtet bei denen, die das nicht ahnen konnten oder wollten. So weit, so gewöhnlich. In Ira Sachs neuem Film „Passages“, der am 30. August ins Kino kommt, wird die klassische Dramaturgie indes einmal umgekehrt. Und damit zu einer Provokation.

Ein Ausrutscher mit fatalen Folgen – für alle Beteiligten

Ausgangsbasis ist hier die Beziehung zweier Männer. Tomas (Franz Rogowski), ein deutscher Regisseur, lebt seit langem in Paris und ist hier auch seit langem mit dem britischen Grafikdesigner Martin (Ben Whishaw) zusammen. Eine Beziehung, die von allen akzeptiert wird. Sie sind auch verheiratet, kein Problem mehr in der heutigen Zeit. Konflikte gibt es hier nicht in der Gesellschaft, sondern nur in der Beziehung. Weil Tomas ein recht schwieriger, zuweilen auch cholerischer Zeitgenosse ist.

Davon weiß auch sein Filmteam ein Lied zu singen. Gleich zu Beginn von „Passages“ fällt die letzte Klappe zum neuen Film. Das wird gefeiert. Die Anspannung fällt merklich ab. Martin verlässt die Party früh, er muss am nächsten Tag früh raus. Und die Filmwelt ist sowieso nicht seins. So zieht Tomas allein mit seiner Crew weiter. Landet in einem Club. Tanzt dort wild mit Agate (Adèle Exarchopoulos). Und verbringt spontan die Nacht mit ihr.

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Ein One-Night-Stand? Ein Ausrutscher? „Ich habe mit einer Frau geschlafen“, gibt er am nächsten Tag offen zu. Die Reaktion seines Partners ist ziemlich gefasst. Man ahnt, dass das nicht zum ersten Mal passiert ist, dass Tomas seine Freiräume braucht und auch einfordert.

Aber neu ist, dass es mit einer Frau passiert ist. Für Tomas ist das ein ganz neues Fühlen und Begehren, das er ausleben und auskosten will. Der klassische Konflikt wird hier auf den Kopf gestellt: Ist die Ehe zwischen den beiden Männern zu eng, zu eingefahren, ist die Affäre ein Ausbruch aus allzu bürgerlichen Bahnen?

„Passangers“: Ist es der Egoismus eines Narzissten - oder ist es der Egoismus der Liebe?

Es geht um heteronormative Werte in „Passages“, um alternative Lebensentwürfe und das, was man neumodisch Polyamorie nennt. Und es geht um Egoismus. Aber ob es der Egoismus des Narzissten ist oder nicht vielmehr der Egoismus der Liebe selbst, das ist schwer auszumachen – und das eigentliche Thema.

Dabei ist dieser Film immer ganz nah bei allen Charakteren. Bei Tomas, dem Verführer, der eine Aura, eine Wirkung auf die Menschen hat und das auch weiß und ausnutzt. Bei Martin, dem Introvertierten, der still duldet und lange hofft, dass die Beziehung dadurch nicht gefährdet ist. Und bei Agate, die gerade erst eine Beziehung beendet hat und sich mit Lust in eine neue stürzt, aber selber staunt, als daraus mehr wird. Keine Ménage à trois, wie man das häufig in Liebesdreiecken erlebt, aber doch ein Dreieck des Begehrens und Leidens, bei dem sich ständig das Kräfteverhältnis und die Dynamik ändern.

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Ist ihre Liebe zu einefahren? Tomas und Martin (Ben Whishaw).
Ist ihre Liebe zu einefahren? Tomas und Martin (Ben Whishaw). © Mubi | Mubi

Die Beziehung zu der Frau trägt relativ schnell Früchte. Agate wird schwanger. Tomas ist überrumpelt von der Vorstellung, Vater zu werden. Und Martin am Boden zerstört, denn er wollte immer ein Kind adoptieren, nur war Tomas dagegen. In dem Moment aber, als Martin eine Konsequenz für sich zieht und Tomas aus seinem Leben bannt, bestürmt ihn dieser wieder. Weil er nicht ohne ihn leben kann.

„Liebe geht seltsame Wege“ heißt einer von Ira Sachs’ Filmen. Und so könnten sie eigentlich alle heißen. Weil der US-amerikanische Regisseur, der offen schwul in einer Regenbogenfamilie lebt, immer wieder das schwierige Terrain langjähriger Beziehungen auslotet.

Eine Art Alter Ego, die nicht nur schmeichelhaft ist für den Regisseur

In „Married Life“ (2007) hat er es noch anhand eines heterosexuellen Paares getan, bei dem beide Parnter Affären eingingen. In „Keep the Lights On“ (2012), Sachs’ bislang größtem Erfolg, verließ ein Mann seine Frau, um mit einem Mann zusammen zu leben. Und hier nun die Spiegelung davon. Wobei es kein Zufall ist, dass die Hauptfigur, wie in „Lights On“, erneut ein Filmemacher ist. Die Geschichten sind zwar nicht autobiografisch, aber, wie Ira Sachs zugibt, immer sehr persönlich.

Der Tomas aus „Passages“ ist also eine Art Alter Ego. Und das fordert schon Mut. Denn der ist alles andere als eine Sympathiefigur. Franz Rogowski soll denn auch erst gezögert haben, als Sachs ihm die Rolle angeboten hat. Aber der Regisseur hatte den deutschen Schauspieler in Michael Hanekes „Happy End“ gesehen. War begeistert von der Unbedingtheit, mit der dieser ambivalente Charaktere verkörpert. Und hatte ihn schon beim Drehbuchschreiben im Kopf, ohne zu wissen, ob er ihn dafür gewinnen würde.

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Martin sucht auch die Nähe zu Agate (Adèle Exarchopoulous), was für alle unangenehme Wahrheiten zutage fördert. s
Martin sucht auch die Nähe zu Agate (Adèle Exarchopoulous), was für alle unangenehme Wahrheiten zutage fördert. s © Mubi

Gut, dass Rogowski dann doch zugesagt hat. Es ist ein weiterer Triumph für den Schauspieler, der es sich nie leicht macht mit seiner Rollenwahl. Der lieber sperrige Arthouse-Filme dreht als glatten Mainstream. Und den immer streitbare, zwiespältige Figuren reizen.

Mit seinem eher wortkargen, aber sehr körperlichen Spiel steht er zunehmend in internationalen Produktionen vor der Kamera. Nach dem italienischen Zirkusfilm „Freak Out“ (der in Deutschland nur auf dem Fantasy Filmfest lief) und dem französischen Flüchtlingsdrama „Disco Boy“ (der auf der Berlinale Premiere hatte) nun in dem ersten in Frankreich gedrehten Film des Amerikaners Ira Sachs.

Eine kluge Reflexion über die Politik der Geschlechter

Der Film ist auch schauspielerisch ein Kräftespiel, zwischen Rogowski, dem großen, feinen Charaktermimen Whishaw, den die meisten als schwulen Q aus den jüngeren James-Bond-Filmen kennen. Und Adèle Exarchopoulos, die sich mit „Blau ist eine warme Farbe“ ins kollektive Bewusstsein gespielt hat.

Ein kraftvoller Film. Genau beobachtet, stark gespielt, hochdramatisch. Und doch auch sehr sinnlich. Eine gleich dreifache Verwirrung der Gefühle. Und zugleich eine kluge Reflexion über die Politik der Geschlechter. Die Liebe, sie geht halt seltsame Wege.