Mehr als ein Krimi: In Jan Costin Wagners „Einer von den Guten“ ermittelt ein Kommissar gegen Kinderschänder, ist aber selbst pädophil.
Es gibt nicht viele Gewissheiten bei Krimis. Außer der Hoffnung, dass ein Verbrechen aufgeklärt und ein Täter möglichst dingfest gemacht wird. Das mag auch die anhaltend große Beliebtheit des Genres, auf dem Buchmarkt wie im Fernsehen, erklären: Gerade in diesen Zeiten, wo eine Krise die nächste jagt, wo nichts mehr sicher scheint, möchte man sich in seiner Freizeit vielleicht auch mal erholen, mit einer Geschichte, die irgendwie gut ausgeht.
Es gibt freilich auch andere Krimis. Solche, die mehr verhandeln über die Abgründe des menschlichen Wesens. Und einen dann doch mit einem ungutem Gefühl entlassen. Oder manchmal sogar damit beginnen. Dieses größtmögliche Wagnis geht nun Jan Costin Wagner ein, mit einem Kriminalroman, der es in sich hat.
Der wohl erste pädophile Ermittler der Kriminalliteratur
Bei dem man schockiert innehält. Womöglich überlegt, ob man überhaupt weiterlesen mag, wegen des Unbehagens, das einen befällt. Und bei dem man dann doch nicht aufhören will. Aus Neugierde. Weil man wissen will, wie die Geschichte ausgeht. Aber auch, wie der Autor aus der Problematik herauskommt.
„Einer von den Guten“ heißt das Buch. Und gleich nach den ersten anderthalb Zeilen weiß man: Es ist ganz anders. „Während der Kriminalpolizist Ben Neven nach Dortmund fährt, um Böses zu tun ...“ Ein Schock ohne Vorspiel.
Wagner ist ein versierter Krimiautor. Liebhabern dieses Genres muss man ihn kaum vorstellen. Insbesondere mit seinen Romanen um den finnischen Kommissar wurde er, der teils in Frankfurt, teils in Finnland wohnt, bekannt. Zwei von ihnen wurden auch verfilmt, mit Henry Hübchen als Hauptfigur.
Lesen Sie auch: „Mama Odessa“: Maxim Billers eigenwillige Liebeserklärung an seine Mutter
Aber dann hat Wagner eine zweite Reihe gestartet mit seinem Wiesbadener Kommissar Ben Neven. Ein glücklicher Familienvater, ein erfolgreicher Ermittler, von den Kollegen geachtet und in der Öffentlichkeit gar als Held verstanden. Und doch führt dieser Mann ein Doppelleben. In seinem ersten Roman „Sommer bei Nacht“, vor drei Jahren erschienen, hat Wagner erste Fährten ausgelegt. Ausgerechnet dieser Mann, der gegen ein Netzwerk von Kinderschändern ermittelt, ist selbst pädophil.
Und damit wohl der erste pädophile Kommissar überhaupt in der Geschichte der Kriminalliteratur. Seine Neigungen hat Neven lange unterdrückt und im Zaum zu halten vermocht. Bis er am Ende des zweiten, im vergangenen Jahr erschienen Romans „Am roten Strand“ weit weg, nach Dortmund fährt, wo er auf einem Parkplatz einen Jungen zu sich ins Auto steigen lässt. Nach Dürrenmatt ist das die schlimmstmögliche Wendung. Und der dritte Roman setzt nun genau an diesem Scheidepunkt an.
„Das sind Monster. Ihr müsst die alle finden“: Dabei ist er selbst ein Monster
Der Titel des Romans ist also eine Lüge. Oder wäre höchstens ironisch zu versehen, wenn sich Ironie angesichts dieses Themas nicht von vornherein verböte. Es umreißt aber auch das Dilemma, in dem dieser Ben Neven steckt. Weil alle genau das in ihm sehen: dass er einer von den Guten ist.
Auch seine Frau, die nichts ahnt von seinen Abgründen. Die mit Stolz im Fernsehen eine Pressekonferenz mit ihrem Mann verfolgt. Und ihn dann ermutigt: „Das sind Monster. Ihr müsst die alle finden.“ Während sich ihm dabei der Magen zusammenkrampft. Eigentlich müsste er sich selbst stellen. Und traut sich doch nicht, sich jemandem zu offenbaren, sein tiefstes Geheimnis zu lüften.
Lesen Sie auch: Mit den „Cabaret“-Stars auf Berliner Spurensuche des Musicals
Wie aber erzählt man so eine Geschichte? Wie schreibt man das, ohne sich dem Verdacht zu setzen, ein virulentes Reizthema, ja eins der letzten Tabus unserer Gesellschaft, sensationsheischend auszuschlachten? Wagner hat einen klugen Weg gewählt. Und erzählt nicht ein, sondern zwei Dramen. Das des Kommissars. Und das des Jungen, der in seinen Wagen steigt.
Dieser Junge heißt Adrian. Er ist erst 13 und sieht noch jünger aus. Ein Rumäne, der nicht auf die Schule geht, ja sich kaum mit Deutschen verständigen kann. Und vom eigenen Vater auf den Strich geschickt wird, um Geld zu verdienen, dass der Vater dann mit seinem Kumpel versäuft. Während die Mutter in der fernen Heimat schon das nächste Kind erwartet. Und nicht für den Jungen da ist. Adrian ist ganz auf sich allein gestellt.
Der Roman verfolgt zwei Dramen, die Perspektiven wechseln sich ab
Bis er durch Zufall Vera kennenlernt, ein Mädchen, das ein Jahr älter ist als er. Das nicht zu ihm herabschaut wegen seiner Herkunft oder Unbildung. Das ihn sogar ihren Eltern vorstellt, die ihn offen bei sich aufnehmen. Fast eine Ersatzfamilie. Aber auch der Junge steckt in einem Dilemma. Kann er sich offenbaren, kann er jemandem anvertrauen, womit er seine Zeit verbringen muss? Oder ist diese Nähe, die Adrian noch nie erfahren durfte, damit nicht gleich wieder und unwiederbringlich vorbei?
Der Roman verfolgt beide Geschichten parallel, die Perspektive wechselt mit jedem Kapitel. Hier der Erwachsene, da der Minderjährige. Beide Geschichten werden im Präsens erzählt, und nicht etwa in der „Zeitform der tiefsten Vergangenheit“, wie das in Thomas Manns „Zauberberg“ heißt. Denn nichts ist hier vergangen, das Thema ist leider allgegenwärtig und hochaktuell. Und wiewohl beide Geschichten in der dritten Person erzählt werden, wechselt Wagner dabei den Stil. Hier die abgeklärte Sicht eines Erwachsenen, der sich seiner Schuld klar bewusst ist, da ein junger Mensch, der noch zu sich selbst finden muss. Und zu den Worten, um das zu beschreiben, was kaum zu beschreiben ist.
Und auch wenn gut 250 Kilometer liegen zwischen der Stadt, in der der Kommissar ermittelt, und der, in der er seinen Neigungen nachgeht, überschneiden diese beiden Welten sich dann natürlich doch. Weil die Kollegen bei ihren Ermittlungen auch Hinweisen auf einen Kinderstrich in Dortmund nachgehen. Und just auf dem Parkplatz lauern, den Neven stets ansteuert. Dort wird der Junge dann in flagranti erwischt. Und landet zum Verhör auf Nevens Revier.
Einen vierten Neven-Roman plant Wagner nicht
„Ich habe die kontroverseste literarische Figur gesucht, die ich mir vorstellen kann ... und Ben Neven gefunden.“ Das sagt Jan Costin Wagner selbst über seine Krimireihe. Aber der Frage, wie es möglich ist, dass Erwachsene Kinder zur Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse missbrauchen, der wollte er nachgehen.
Das war der Auslöser für seine Romane, und die sollten dann auch die maximale Fallhöhe haben. „Diesen nahe liegenden Trugschluss – das tut kein Mensch, das tun nur Monster – wollte ich überwinden, indem ich das ,Monster‘ zeichne, ohne den Menschen preiszugeben.“
Einen vierten Neven-Roman plant Wagner indes nicht mehr. Das letzte Kapitel, meint er, sei sehr final. Und vielleicht war der Weg mit diesen drei Romanen auch schwer genug und kann nicht endlos beschritten werden.
Buchpremiere in Berlin: August, 20 Uhr, im Garten von Schloss Schönhausen, Tschaikowskistr. 1.