Wacken. Das Metal-Festival ist endlich in vollem Gange, trotz aller widrigen Umstände: Eindrücke von Bands und Fans, Modder und Mitgefühl.

Majestät brauchen Sonne: Der König von Wacken, gut erkennbar an der aufblasbaren Krone auf dem Haupt, hat ein gemütliches Plätzchen gefunden, um sich von den Amtsgeschäften zu erholen: Während sich die britischen Hardrock-Pioniere Uriah Heep am Donnerstag auf der „Harder“-Hauptbühne von „Against The Odds“ über „Lady In Black“ bis „Easy Livin’“ durch fünf Jahrzehnte spielen, legt sich der verkleidete Festivalfan einfach rückwärts in den knöcheltiefen Schlamm und genießt die ersten Sonnenstrahlen in Wacken seit vielen Tagen. Ein Mundschenk gießt ihm aus einem Meter Höhe Bier in den Schlund. Ich beneide ihn trotzdem nicht. Die Pampe, in der er einen Schlammengel macht, stinkt zum Himmel.

Besser hat es der eigentliche König von Wacken dieses Jahr: Steve Harris, Motor und Bassist der britischen Metal-Giganten Iron Maiden, am Freitag der Höhepunkt im Programm des Wacken Open Airs. Harris ist bereits einen Tag früher zum Festival gekommen und spielt Backstage auf einem Rest Rasen Fußball, mit dabei ist auch sein Sohn George, Gitarrist der ebenfalls für Wacken gebuchten Band The Raven Age.

Wacken: Bei Vixen und Uriah Heep beginnt sich das Infield zu füllen

So macht jeder das für ihn Beste aus den wenigen Sonnenstunden, vom Fan über den Reporter bis zum Superstar. Die Wacken-Urgesteine Skyline, seit 1990 festes Inventar des Festivals, spielen am frühen Donnerstagnachmittag noch vor wenigen Tausend Fans auf der „Harder“-Bühne, aber schon bei den 80er-Hardrockerinnen Vixen und bei Uriah Heep im Anschluss beginnt sich das Infield mit den beiden Hauptbühnen zu füllen. Meine Gummistiefel wippen und das Alsterwasser im Becher schwappt im Takt.

Blicke ich mich um, sehe ich wie sich eine Zombiearmee von den Campingplätzen wie eine schwarze Masse die Wege entlangwälzt. Langsam, taumelnd, zuckend, wankend. Nicht, weil die Metalfans über die Maßen betrunken sind, am zweiten Konzerttag und vierten Tag nach der von katastrophalen Umständen begleiteten Öffnung der Zeltareale haben die meisten längst ihren entspannten Dauerpegel erreicht. Sondern weil jeder Schritt eine Qual ist. Der elend zähe Morast zerrt an Gummistiefeln und Nato-Tretern, ein ewiger, unberechenbarer Rhythmus aus Glitschen, Rutschen und unvermitteltem Haftenbleiben.

Wacken: Backstage brannte an den Anreisetagen der Baum

Es sind nicht ungefährliche Bodenverhältnisse, für Mensch und Gerät. Selbst ein banaler Blick in die Festival-App oder auf das Smartphone generell ist ein Balanceakt. „Bloß nicht das Handy in die Suhle fallen lassen wie beim Dockville 2011“ denke ich. Die Kommentare unter den Social-Media-Beiträgen des Festivals kennen weiterhin nur ein Thema: Die Entscheidung der Wacken-Veranstalter, am frühen Mittwoch, nach mehreren Anreisestopps einen generellen Einlassstopp zu verhängen, wird von vielen der bis zu 35.000 zahlenden Fans, die so vom Festival ausgeschlossen wurden (und jetzt ihr Eintrittsgeld von 300 Euro zurückbekommen sollen), als ungerecht und willkürlich empfunden.

„Wheels Of Steel“:  „Wacken Opa Günter“ sammelt in Wacken Spenden für die gute Sache. Auf den Straßen im Dorf geht das noch, auf dem Festival-Areal wird es für Rollstuhlfahrende eine Herausforderung.
„Wheels Of Steel“: „Wacken Opa Günter“ sammelt in Wacken Spenden für die gute Sache. Auf den Straßen im Dorf geht das noch, auf dem Festival-Areal wird es für Rollstuhlfahrende eine Herausforderung. © MAGO/Dirk Jacobs

Die Kommunikation im Chaos am Montag und Dienstag war in der Tat unglücklich und ist weiterhin optimierbar. So gibt es bisher weder auf den Social-Media-Kanälen des Festivals noch auf Abendblatt-Anfrage eine Stellungnahme zu den sich hartnäckig haltenden Gerüchten, dass trotz des verkündeten Einlassstopps, der viele Fans nach Hause fahren ließ, weiter Zugangsbändchen ausgeteilt werden.

Backstage habe jedenfalls, so erzählt eine Wacken-Mitarbeiterin, wirklich der Baum gebrannt: „Frag nicht nach Sonnenschein.“ Minütlich neue Lagen und Hiobsbotschaften, Absprachen mit Behörden, Polizei und Rettungsdiensten, Organisation von Ausweichflächen wie dem nahen Flugplatz Hungriger Wolf und entsprechenden Bus-Shuttles, Wassereinbrüche in den Ablaufplan.


Wacken: Sogar geländegängige Quads sind mit dem Schlamm überfordert

Aber es ist vor Ort auch eine Situation, die es so noch nicht gab, auch nicht im vielleicht bis dahin schlammigsten Jahr 2015. Bis dahin dachte ich seit meinem ersten Wacken-Besuch 1998 „Gummistiefel sind kein Heavy Metal“, 2023 sind sie für mich die vielleicht großartigste Erfindung neben der elektrischen Gitarre. Herrje, auf einigen Arealen, durch die man watet, sieht es wirklich böse aus. Traurig an den Heringen dümpelnde Zeltreste, tiefe Furchen, aufgewühltes Geläuf, ein unter Gejohle stecken gebliebenes Gelände-Quad. Eimer für alle, alles im Eimer. Zwar fahren 70 Traktoren und vier Bagger am Donnerstag wieder 3000 Kubikmeter Holzschnitzel und Kies aus, aber das ist wohl nur ein Steinchen auf stete Tropfen. Als Hammerfall einen feinen Abriss auf der „Faster“-Bühne zelebriert, regnet es erneut, wenn auch nur kurz.

Das Infield ist da bereits proppenvoll. Ich frage mich, wo jetzt noch die 35.000 Fehlenden hinpassen würden. Zwar wurden die Bereiche vor den Bühnen „Faster“, „Harder“ und „Louder“ offensichtlich vergrößert, und auch die fünf kleineren Bühnen wie die „Headbangers Stage“, auf der die New Yorker Death-Metaller Immolation böllern, ziehen einiges an Publikum ab. Aber es wird dennoch eng. Wenn jemand sich den Knöchel verstaucht oder sich Schlimmeres zuzieht, haben es die Sanis schwer. Wobei die Fans helfen, wo sie nur können: Ein Dreiergespann zieht und schiebt einen Rollifahrer auf seinen „Wheels Of Steel“ (Saxon) durch den Modder.

Wacken: Die „Bro Hymn“ von Pennywise hallt weit über das Gelände

„Das zeigt aber, wie loyal Metal-Fans sind, weil sie eben immer da sind. Es kann regnen und sie springen trotzdem durch die Gegend und sorgen für beste Stimmung“, fasst George Harris im Wacken-Magazin „Festival Today“ seine Erfahrungen bei Pfützenfestivals zusammen. Ich kann ihm da nur beipflichten. Trotz des Ärgers und der Traurigkeit, die Wacken 2023 begleiten, hört man den „Ohohoho“-Chor der Fans vor der „Louder“-Bühne bei den US-Punkern Pennywise und ihrem Hit „Bro Hymn“ wahrscheinlich bis zum 20 Kilometer entfernten Hagebau-Parkplatz in Itzehoe. Dort campiert immer noch ein Grüppchen gestrandeter Metalheads um ihren Grill.

Ein Fahrzeug eines Festivalbesuchers ist bis zu den Achsen im Schlamm eingesunken. 70 Trecker sind im Einsatz, um havarierte Autos freizuschleppen.
Ein Fahrzeug eines Festivalbesuchers ist bis zu den Achsen im Schlamm eingesunken. 70 Trecker sind im Einsatz, um havarierte Autos freizuschleppen. © dpa | Axel Heimken

Auf dem Handy bimmeln Nachrichten von Freunden und Bekannten, die auch auf dem Festival sind und sich auf ein Bierchen treffen wollen. Campingplatz W. Halbe Stunde Schlammmarsch, mindestens. „Sorry, ich kann gerade nicht, bin im Arbeitsstress“ (heißt: in der Schlange am Bierstand). Ein anderer, der trotz Ticket heimfahren musste, fragt, wie es so ist in Wacken. „Frag nicht nach Sonnenschein“. Er tut mir leid, denn er verpasst doch was. Die 50.000 Fans auf dem Wacken Open Air geben alles, selbst ein Imbisskoch mit Schürze, der wie das Zeichentrick-Ferkel Peppa Wutz in der Matschepampe herumspringt. Zehntausende Hände machen die Pommesgabel-Geste bei Kreator. „Wacken ist nur einmal im Jahr“ ist das gelebte Motto.

Wacken: Aufpassen am Abreisetag ist angesagt

Die Metalgemeinde wird bis zum frühen Sonntag alles geben und nicht an die Abfahrt denken. Denn die wird ebenso kein Spaß wie die Anreise. Selbst mit Schlepphilfe nicht, denn Ölwannen, Getriebe, Radlager und Bremsen können aufsetzen oder verschlammen – und teure Werkstatt-Termine und Versicherungs-Selbstbeteiligungen bei Mietwagen dürften dann die Folge sein. Ich hatte mal so ein Vergnügen beim Hurricane Festival.

Es ist jedenfalls mein härtestes Wacken seit 1998. Gewiss nicht körperlich, aber seelisch aus Mitgefühl für Zehntausende, die nicht feiern dürfen, Zehntausende die unter diesen Umständen feiern müssen und Zehntausende, die in und um Wacken alles dafür taten und tun, damit gefeiert werden kann. „All For Metal“, wie Doro sang. Niemand spendet so laut Trost wie sie.