Hamburg. Zur Eröffnung der Hamburger Ballett-Tage tanzt 15 Jahre alte Neumeier-Schülerin die Hauptrolle. Azul Ardizzone muss man sich merken.
Am Ende, als Julia in der Gruft aus dem vorgetäuschten Todessschlaf erwacht und neben dem von eigener Hand erstochenen Romeo hinsinkt, spürt man ihre Verzweiflung derart, dass es einem förmlich das Herz zerreißt. Das hat vielleicht auch mit dem Alter der Tänzerin zu tun.
Ende dieser Woche wird die Julia-Tänzerin Azul Ardizzone – sie besucht die Ballettschule des Hamburg Balletts – erst 16 Jahre alt. Es ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, in so jungen Jahren eine solche Rolle derart kraftvoll und bewegend zu verkörpern. Natürlich wurde bei ihren Probezeiten auf den Jugendschutz geachtet und auch darauf, dass sie keinen Schulstoff versäumt.
Hamburg Ballett: Neumeier gelingt mit „Romeo und Julia“ ein Triumph
Der Gruppentänzer und Romeo-Darsteller Louis Musin ist mit 21 Jahren nur unwesentlich älter – beim tosenden Schluss-Applaus legt er sehr fürsorglich und schützend den Arm um die zierliche Kollegin. Gemeinsam gelingt diesem jungen Tanz-Paar in John Neumeiers Wiederaufnahmepremiere seines Handlungsballetts „Romeo und Julia“ anlässlich der Eröffnung der 48. Hamburger Ballett-Tage ein außergewöhnlicher Triumph.
John Neumeier hat den Shakespeare-Klassiker diesmal bewusst einer ganz jungen Generation anvertraut – ein Wagnis, das aufgeht. Louis Musin bewältigt die spielerischen Passagen überzeugend und präsentiert in Technik und Ausdruck eine enorme Präsenz. Zu Beginn gibt er einen ganz natürlich lebensfrohen Romeo, der sich am liebsten mit Benvolio, seinem Cousin aus dem Hause Montague (fabelhaft und enorm sprungstark getanzt von Francesco Cortese) und seinem Freund Mercutio (unvergleichlich fluide gegeben von dem filigranen Alessandro Frola) vergnügt. Alle drei begeistern mit hohen Sprüngen, ihre Gesten wirken frisch und jugendlich.
Romeo und Julia: Bühnenbild kommt von Ausstatter-Legende Jürgen Rose (86)
Das zurückhaltende Verona-Bühnenbild von Ausstatter-Legende Jürgen Rose (86) gibt ihnen den nötigen Raum. Das Auf- und Niederfahren des Bühnenbildes ist Teil der bei offenem Vorhang voranschreitenden Handlung. Auch die Kostüme – ebenfalls von Rose – sind zwar historisch angelegt, aber reduziert genug, um auch in den wundervollen Gruppentableaus die nötige Bewegungsfreiheit zu ermöglichen.
Romeo ist zunächst hingerissen von Rosalinde, einer Cousine Julias, aber im Zuge des Fests des Schutzheiligen von Verona kommt es zur schicksalhaften Begegnung mit Julia. Sie tanzen buchstäblich ineinander, und es geschieht etwas mit ihnen, das sie noch nicht recht einordnen können. Die ungestüme und temperamentvolle Julia bewegt sich bei Azul Ardizzone zunächst bewusst recht ungelenk über die Bühne – doch so wie der leichtlebige Romeo auf einmal eine neue Sensibilität offenbart, wandelt sich auch Julia in der Liebe mehr und mehr zu einer Tänzerin mit grazilen Bewegungen.
Romeo und Julia: Pas de Deux zwischen Musin und Ardizzone erzählt von Leidenschaft
Aber schon auf dem Fest bei den Capulets kündigt sich drohendes Unheil an. Denn die Capulets sind bekanntlich mit den Montagues verfeindet – und vor allem Julias Vetter Tybalt, den Artem Prokopchuk als virilen Haudrauf tanzt, stiftet Unruhe. Das führt im ersten Akt auch zu einigen schwungvollen Fecht-Szenen. In Lennard Giesenbergs Bruder Lorenzo finden die Verliebten immerhin einen Verbündeten. Das Außen vor der Kirche verwandelt sich im Nu ins Innere, wo sich beide heimlich vermählen lassen. Wie die innigen Pas de Deux mit vielen technisch anspruchsvollen Hebefiguren zwischen Musin und Ardizzone von Wahrhaftigkeit und Leidenschaft erzählen, das ist schon sehr bewegend.
Doch bald übernehmen erneut die ungesund Heißblütigen. Tybalt ermordet den tapfer sich ihm entgegenstellenden Mercutio, was umgehend von Romeo gerächt wird. Im Kreise einer von John Neumeier zur Erzählung hinzugefügten fahrenden Schauspielertruppe, kann er fliehen. Aus der Verbannung heraus kann er sich nur noch heimlich Julia nähern. Die soll nun aber nach dem Willen ihrer Eltern, dem von Matias Oberlin warmherzig und Priscilla Tselikova kühl getanzten Grafen-Paar Capulet, den Grafen Paris ehelichen. Florian Pohl gibt ihn stattlich und von vornehmer Zurückhaltung.
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Hamburg Ballett: Premiere eines ganz besonderen Liebespaars
In diesen Szenen der Zurückweisung zeigt sich bei Azul Ardizzone mehr und mehr der rebellische Charakter Julias. Hektisch dreht und windet sie sich hin und her, läuft und fällt, dass die Haare fliegen. Besonders ergreifend gerät eine Art Traumbegegnung, in der Musin und Ardizzone synchron, aber jeder für sich auf leerer Fläche tanzen. Als Bruder Lorenzo Julia einen Kräutertrank verschafft, der sie für 24 Stunden einschläfern soll, nimmt das Unglück des legendärsten aller literarischen Liebespaare seinen Lauf.
Die Wiederaufnahme des Klassikers, mit dessen Premiere John Neumeier 1974 in Hamburg sein erstes Handlungsballett vorstellte, lebt insgesamt von einem engagierten jungen Ensemble, auch wenn manche Gruppenchoreografien noch nicht ganz akkurat gelingen. Wenn der musikalische Leiter Simon Hewett mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg mitunter das Tempo der grandiosen Ballett-Musik von Sergej Prokofjew etwas verschleppt, entsteht mehr Raum für den Tanz. Es ist auch ein Fest der großen Bilder vom dynamischen Volksfest über den konzentriert schreitenden Trauerzug bis zu intimen Pas de Deux.
Hamburg hat die Premiere eines ganz besonderen Liebespaars erlebt.
48. Hamburger Ballett-Tage noch bis 9.7., „Romeo und Julia“ weitere Vorstellungen 27.10., 28.10., 9.11., 10.11., 17.11., 18.11., jew. 19 Uhr, Staatsoper, Dammtorstraße 28, Karten unter T. 35 68 68; www.hamburgballett.de