Hamburg. Christopher von Delyen über das neue Schiller-Album „Illuminate“ und die Zusammenarbeit mit Menschen aus dem Iran und der Ukraine.

Fast hätte Christopher von Deylen sein eigenes Jubiläum vergessen: Vor 25 Jahren gründete der 1970 in Visselhövede geborene Musiker zusammen mit Mirko von Schlieffen in Hamburg das Elektro-Pop-Projekt Schiller. Seit dem Debüt „Zeitgeist“ 1999 hat von Deylen acht Nummer-Eins-Alben veröffentlicht (zuletzt 2021 „Summer In Berlin“), die größten Hallen gefüllt und die halbe Welt bereist. Jetzt ist mit „Illuminate“ ein weiteres Magnum Opus mit 28 Liedern erschienen – und zahlreichen Gästen auch aus Ländern, die derzeit die Nachrichten bestimmen. Für von Deylen ist das kein politisches Statement, sondern ein menschliches, wie er beim Telefonat mit dem Hamburger Abendblatt erzählt.

Hamburger Abendblatt: Um mit dem Lied „Reisefieber“ einzusteigen: Wo halten Sie sich gerade auf? Seit einiger Zeit haben Sie ja wieder einen festen Wohnsitz mit Studio im Dreieck zwischen Hamburg, Bremen und Hannover, sind aber gern und viel unterwegs.

Christopher von Deylen: Ich bin gerade wieder in diesem Basislager in der Gegend, wo ich aufgewachsen bin. Das war zwar temporär gedacht, ist aber durch die Pandemie mein Lebensmittelpunkt geworden – mit meiner Freundin, einem Kater und einer Katze. Aber ich bin glücklich, dass man wieder unkomplizierter Reisen kann, zuletzt nach Aserbeidschan, ein tolles Reiseland, kann ich nur empfehlen.

Aber auch eine Region der Konflikte, Stichwort Bergkarabach. 2017, 2018 und 2019 spielten sie als erster westlicher Künstler seit 40 Jahren im Iran und begrüßen im neuen Song „Love And Tears“ die iranisch-kurdische Künstlerin Yalda Abbasi. Und die Videos zu den Songs „ukrainischen Künstlerkollektiv zwei emotionale Musikvideos zu den Kompositionen „Empire Of Light” und „Quiet Love” wurden von ukrainischen Künstlerinnen und Künstler in Kyiv gedreht. Sind Sie ein Musiker im Krisenmodus?

von Deylen: Nein, auf keinen Fall. Ich lege Wert auf die Feststellung, gerade wenn wir über den Iran oder die Ukraine sprechen, dass ich mich nicht als künstlerischer Katastrophentourist betrachte, der den Finger in den Wind hält, um zu schauen, vor welcher Krise man sich aktuell inszenieren kann.

Ich habe ausgerechnet zu diesen beiden Ländern ein enges, über Jahre entstandenes Verhältnis, weil ich dort oft aufgetreten bin und mit vielen Künstlerinnen und Künstlern zusammengearbeitet habe. Die Eindrücke dort waren unvergesslich, sei es die geradezu beschämende Gastfreundschaft im Iran und die Tiefe, mit der dort besonders die jungen Menschen Kultur erleben und aufnehmen, oder musikalische Abenteuer in der Ukraine, wo ich in Kyiv sogar mit einer ukrainischen Bigband auftreten durfte.

Wie kamen die Kontakte in die Ukraine zustande? Klar, Sie sind ein notorischer Weltenbummler, trotzdem war die Ukraine für nicht wenige Deutsche bis 2022 ein weißer Fleck auf der kulturellen Landkarte.

von Deylen: Meine Freundin war künstlerische Leiterin der Fliegenden Bauten in Hamburg, und Igor Kuleshyn, der mit seinem Team „Empire Of Light” und „Quiet Love” in Kyiv zwischen Stromausfällen und Luftalarmen drehte, gastierte dort einige Wochen lang mit seinem Tanzensemble. Im Januar, als ich fast verzweifelt grübelte, wie man im Winter in Hamburg „Illuminate“ visualisieren könnte, hatte meine Freundin die spontane Idee, Igor anzurufen.

Igor kam genau in diesem Moment aus dem Luftschutzkeller, hatte gerade Handyempfang. Eines der Videos entstand in einem leeren Museum in Kyiv, dessen Kunstwerke wegen der Angriffe ausgelagert wurden. Diesen Ort für einen Tag mit Liebe, Tanz und Musik zum Leben zu erwecken hat alle Mitwirkenden extrem berührt. Ich bin sehr glücklich, Teil dessen zu sein.

Wie passt das zu einem Zitat von Ihnen aus unserem letzten Interview 2021: „Mein Wunsch, musikalisch eine inhaltliche Aussage zu treffen, ist ja eher überschaubar…“?

von Deylen: Die Frage kam seit meinen Konzerten im Iran schon öfter auf: „Wird der Schiller denn jetzt politisch?“ Aber für mich ist die Verbindung in den Iran oder in die Ukraine nicht politisch, sondern menschlich. Konflikte und Kriege haben für mich in ihren Auswirkungen in erster Linie nichts mit Politik zu tun, sondern mit dem Menschsein. Erst die Menschen, dann kommt alles Andere.

Meine Musik spiegelt wieder, was ich empfinde. Das kann ich in Worten offensichtlich nicht ausdrücken, daher nutze ich dafür Melodien, Harmonien und Klänge. Aber wenn ich überlege, nicht mit Menschen aus der Ukraine zusammenzuarbeiten, weil ich auf Kritik stoßen könnte, dann fängt ja erst das Taktieren, das Politische an.

Es gab zwar wenige, aber dafür erstaunlich entschlossene Kommentare, die sich davon gestört fühlten. Aber meine Verbindungen zu den Menschen im Iran oder in der Ukraine sind ja authentisch. In der Komfortzone bleiben, diese Menschen auszuschließen, um ungreifbar zu bleiben, das wäre unglaubwürdig und falsch.

Um am Stichwort Bestandsaufnahme anzuschließen: „Illuminate“ klingt an vielen Stellen sehr retro, wie ein Blick zurück auf die 90er, als das Projekt Schiller entstand. Ist es Ihr Album zum 25. Jubiläum ihres Karrierestarts?

von Deylen: Die Feststellung, dass Schiller 25 Jahre alt wird, geriet erst ins Blickfeld, als das Album längst fertig war. Ich blicke eigentlich mit fast neurotischer Entschlossenheit nach vorn und versuche, mich bei jedem Album wie ein Newcomer zu fühlen. Es ist also kein musikalisches „Wetten, dass..?“, mit dem ich Nostalgiegefühle wecken möchte. Aber: Tatsächlich sind mir dieses Mal mehr als sonst einige 90er-Reminiszenzen durchgerutscht, die ich vielleicht früher Zeit schreckhaft getilgt hätte. Aber es fühlte sich richtig an. Außerdem mache es mir eh schon schwer genug im Studio (lacht).

„Illuminate“ erscheint als Doppel-Album in diversen aufwendigen Editionen. Das hat auch was Altmodisches im Streamingzeitalter. Lohnt sich das noch?

von Deylen: Ich hoffe es. Ich verhalte mich generell sehr gern antizyklisch. Ich beobachte, dass Lieder immer kürzer werden, auf Intros und Outros verzichten und sich kompositorisch den Algorithmen der Streamingdienste stellen, nicht dem Geschmack des Publikums. Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne ist dadurch extrem gesunken. Ich behaupte, dass Streaming das erste Medium in der Musikgeschichte ist, das unmittelbare Folgen für die Entstehung, die Schöpfung von Musik hat. Freunde von mir berichten von Songwriting-Sitzungen, bei denen mittlerweile nur noch 30 Sekunden lange Tracks für TikTok gebaut werden.

Man komponiert sozusagen ein Demo, schaut, wie es auf TikTok klickt und erst danach wird der eigentliche Song geschrieben, der auch nicht länger als zwei Minuten ist. Ich möchte diese Entwicklung aber nicht stoppen, sondern eine Alternative anbieten, weil ich glaube, dass es viele Menschen gibt, die gern an einem verregneten Nachmittag in ein Stück wie „Midsommar“ eintauchen.

Das kompakte 20-Minuten-Stück „Midsommar“ haben Sie mit Thorsten Quaeschning von Ihren Vorbildern Tangerine Dream komponiert. Entzaubert es ein Idol, wenn man mit ihm zusammenarbeitet?

von Deylen: Nein, überhaupt nicht. Thorsten Quaeschning hat so eine menschliche Wärme und einen individuellen Stil, dass ich ihn nach wie vor bewundere. Ich gebe Ihnen aber recht, dass das durchaus hätte passieren können. Ich bin großer Fan von Werk und Wirken von Michael Cretu, meine musikalische Sozialisation hat zwischen Tangerine Dream und Sandra – als Inbegriff für Cretus Produzentenmusik – stattgefunden. Ich habe immer davon geträumt, Cretu zu treffen, aber über die Jahre immer mehr Geschichten – die nicht stimmen müssen – gehört, die mich davon haben abrücken lassen. Ich möchte meine Sandra-Alben auch in Zukunft noch unvoreingenommen hören (lacht).

Schiller: „Illuminate“ Album (Sony) im Handel; Konzert: Sa 13.5., 20.00, Barclays Arena, Karten ab 54,90 im Vorverkauf; www.schillermusic.com