Hamburg. Mit „Die Fabelmans“ hat Steven Spielberg seinen persönlichsten Film gedreht. Er zeigt, wie der Regisseur seine Leidenschaft entdeckte.

Das erste Mal ins Kino gehen: für viele Kinder ein ganz besonders schöner Moment. Nicht so für den kleinen Sammy, da kann sein Vater, ein Technikingenieur, ihm noch so präzise erklären, welch faszinierende technische Abläufe dabei vonstattengehen. Die Mutter versucht es anders und spricht verheißungsvoll: „Filme sind Träume, die man nie vergisst!“ Als die Eltern mit ihrem Kind dann im Kino sitzen, 1952, im Zirkusfilm „Die größte Schau der Welt“, da erweist sich das eher als Albtraum: denn in einer Szene rast ein Zug in einen anderen. Und der kleine Sammy ist entsetzt.

Zu Weihnachten wünscht er sich dann jedoch eine Spielzeugeisenbahn. Und lässt immer wieder seine Züge ineinanderkrachen. Eine Art der Angstverarbeitung, wie die verständige Mutter ahnt. Da dabei das teure Spielzeug aber in Mitleidenschaft gezogen wird, leiht sie ihrem Spross heimlich die Kamera seines Vaters. So kann er den Crash einmal aufnehmen und immer wieder anschauen. Als Mutti das Werk dann das erste Mal sehen darf, kommt sie aus dem Staunen nicht mehr heraus, weil der kleine Bub mit zahllosen Einstellungen, Schnitten und verblüffenden Tricks einen richtigen Film gezaubert hat.

"Die Fabelmanns": Steven Spielbergs Mutter hatte ihn zu diesem Film ermutigt

Es ist der Beginn einer großen Karriere. Denn Steven Spielberg – der auf der Berlinale frisch mit dem Goldenen Ehrenbären gekürte Meisterregisseur – erzählt in „Die Fabelmans“ kaum versteckt seine eigene Geschichte: also die, wie er als Kind davon träumte, Filme zu drehen, und wie er mit ihnen später Menschen zum Träumen bringen sollte. Es ist sein persönlichster Film, in dem er erstmals von sich erzählt. Und von seinen Eltern. Nachdem sein Vater im August 2020 im biblischen Alter von 103 Jahren gestorben war, traute er sich an das Projekt, zu dem ihn seine Mutter, 2017 im ebenfalls hohen Alter von 97 Jahren gestorben, immer wieder ermutigt hatte.

Es war ein Clou, dass Spielberg mit diesem Film im Februar auf die Berlinale kam. Die bittere Pille, die man dabei schlucken musste: Der Film war zu diesem Zeitpunkt bereits überall auf der Welt gestartet, inzwischen hat er zwei Golden Globes gewonnen und sieben Oscarnominierungen eingefahren. Nun ist er endlich auch in den deutschen Kinos zu erleben. Und: „Die Fabelmans“ ist eine der schönsten und persönlichsten Liebeserklärungen an das Kino, die je gedreht wurden.

Ein Erlebnis lässt Spielberg die Kamera zwischenzeitlich hassen

Über mehrere Zeitsprünge wird hier – vom Bubenalter über die Teenie-Zeit bis zum Abschluss der Highschool – von einem Wunderkind erzählt, das seine Umwelt in Staunen versetzt mit fantasievollen und aufwendig gestalteten Super-8-Filmen, mit denen das Kind großes Kino erzeugt. Und dabei raffinierte Effekte ertüftelt, die selbst den Vater verblüffen. Der kleine Sammy stellt nicht nur große Filmklassiker nach, der große Spielberg zitiert sich dabei mehrfach selbst. Beziehungsweise lässt augenzwinkernd erahnen, dass Szenen aus seinem immensen Oeuvre direkt aus Selbsterlebtem stammen.

Eines Tages aber verliert diese kindliche Liebe zum Kino seine Unschuld. Weil Sammy (als Teenager gespielt vom Newcomer Gabriel LaBelle) auf seinen Aufnahmen vom familiären Campen in der Wildnis per Zufall entdeckt, dass seine geliebte Mutter Mitzi (hinreißend gespielt von Michelle Williams) eine Affäre mit Bennie Loewy (Seth Rogen) hat, dem besten Freund des Vaters Burt (Paul Dano). Nach dieser Entdeckung will Sammy nie wieder eine Kamera in die Hand nehmen. Weil sie Wahrheiten offenbart, die er nicht aussprechen, nicht aushalten kann. Doch als ihn die Mutter drängt, sein Talent nicht aufzugeben, und nicht versteht, wieso der Junge so abweisend ist, da schneidet er, nur für sie, die Schnipsel aus dem Campingfilm zusammen, die er für den Rest der Familie extra herausgeschnitten hatte.

Spielberg selbst hat keine einfache Familie

Es ist ein großer Moment dieses Films. Weil die Zuschauer die Ausschnitte da schon kennen und in dem Moment nur sehen, welche Wirkung sie auf die Mutter haben, die sie zum ersten Mal sieht. Es ist auch ein Schockmoment, weil Mitzi erkennt, dass sie das Unglück in ihrer Ehe nicht länger verheimlichen kann. Was schließlich zur Trennung der Eltern führt. Bei der irgendwie auch der kleine Sohn – wenn auch gegen seinen klaren Willen – Regie geführt hat.

Plötzlich wird einem klar, weshalb in den Filmen von Steven Spielberg so oft Kinder im Zentrum stehen, die aus kaputten Familien stammen und darunter leiden. Allen voran die Scheidungskinder aus seinem wohl größten Klassiker „E. T.“ (1982). Aber man kann sich die ganze Filmografie Spielbergs vornehmen. Und wird immer wieder auf Kinder ohne Vater, ohne Mutter oder beides stoßen. Und es ist kein Zufall, dass der Sammy-Darsteller LaBelle dem jungen „Stevie“ Spielberg so ähnlich sieht.

Der Vater stellte seinen Job oft an erste Stelle

Auch wenn die Fabelmans einen fiktiven Namen tragen, so war auch Spielbergs Mutter Leah Adler wie Mitzi Fabelman eine Frau, die ihre Karriere als Konzertpianistin aufgegeben, aber das Leben gefeiert hat. Und Spielbergs Vater Arnold Meyer Spielberg war, wie Burt Fabelman, ein Elektroingenieur, der ganz für seinen Job lebte. Und darüber zuweilen die Familie vergaß.

Die Kamera und die Filme werden für den jungen Fabelman/Spielberg schließlich auch zu einem Instrument, um sich selbst zu behaupten. Etwa gegen eine feindlich gesinnte Umwelt. Denn als die Familie von New Jersey nach Arizona zieht, weil der Vater dort eine bessere Anstellung bekommt, da sind die Fabelmans plötzlich die einzigen Juden weit und breit. Sammy wird in der Schule deshalb gehänselt, gemobbt und verprügelt. Und der Film ist das einzige Macht- und Ausdrucksmittel, mit dem er sich wehren kann – womit er zugleich die Aufmerksamkeit der Mädchen weckt.

Dieser Film weckt wohl in jedem Zuschauer Emotionen

Das Filmemachen ist hier gleich ein mehrfacher Initiationsritus. Womit der junge Sammy die großen Gaben seiner Eltern vereint: Den virtuosen Umgang mit der Technik hat er von seinem Vater, von seiner Mutter aber die Kunstfertigkeit, den Glauben an die Träume und die Kraft der Emotionen. Das macht „Die Fabelmans“ zu einem ganz fabelhaften Film voller großer Gefühle, die niemanden unberührt lassen. 70 Jahre nach seinem ersten Kinobesuch hat der 76-jährige Spielberg seine eigene Geschichte verarbeitet. Und schenkt uns einmal mehr einen großen, aufwühlenden Kinoabend. Zum Heulen schön. Aber auch immer wieder zum Lachen.

„Die Fabelmans“ 151 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im Abaton, in der Astor FilmLounge, im Blankeneser, Cinemaxx Dammtor, Passage, Savoy, Studio, Zeise und in den UCI-Kinos