Hamburg. Die Schweizer Dramatikerin Martina Clavadetscher gibt den Damen in Kunstwerken auf unterhaltsame Weise eine Stimme.

Wer war das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, das Vermeer porträtierte? Warum sind die Brüste von Raffaels „Fornarina“ entblößt, und was mag sich hinter dem mürrischen Gesichtsausdruck von Van Goghs „La Berceuse“ verbergen? Fragen, die sich beim Anblick berühmter Gemälde nicht aufdrängen, aber unbedingt gestellt werden sollten. Denn was für eine schreiende Ungerechtigkeit ist es, dass man sehr wohl die Künstler kennt, aber in den allerwenigsten Fällen die Frauen, die in den Bildern zu sehen sind? Findet auch die Schweizer Autorin und Dramatikerin Martina Clavadetscher, Jahrgang 1979 – und hat darüber ein Buch geschrieben. Titel: „Vor aller Augen“ (Unionsverlag, 24 Euro). Sie stellt es am Donnerstag im Literaturhaus vor.

Auslöser war eine Anfrage des Kunstmuseums Basel, über eines ihrer Lieblingsbilder einen Text zu verfassen, der anschließend in einem Schauspiel im Museum vorgetragen werden sollte. „Ich hatte Egon Schieles ,Auf dem Rücken‘ gewählt, das seine Lebenspartnerin Wally Neuzil zeigt, doch es war nirgendwo im Museum ausgestellt. Ich fand es merkwürdig, eine Frau einfach so abzuhängen und ins Depot zu verbannen, und so recherchierte ich nicht nur zum Maler und zum Bild, sondern auch zur Frau, die auf dem Rücken liegend abgebildet ist. Ich wollte sie ans Tageslicht bringen, ihr eine Stimme geben“, sagt Martina Clavadetscher.

Mit Dreistigkeit in die Rolle der Frauen versetzt

Die Autorin beschloss, sich auf die Spuren weiterer Frauen in bekannten Gemälden zu machen, „deren Gesichter und Körper wir kennen, doch nicht deren Persönlichkeit, Geschichte, Sehnsüchte und Sorgen“. Sie las Tagebucheinträge und Briefe von Malern und erfuhr darüber auch so manches über deren Modelle. Mit einer gewissen „Dreistigkeit“, wie die Autorin es selbst nennt, versetzte sie sich in die Rolle von Tänzerinnen, Aristokratinnen Selbstmörderinnen, Frauen aus Tahiti, Florenz oder Harlem, Weißen und Schwarzen, Jungen und Alten. Die Fakten reicherte Martina Clavadetscher mit erdachten Details an; so entstanden 19 sehr unterhaltsame und berührende, wie kleine Theaterstücke verfasste Geschichten, in denen die Akteurinnen selbst sprechen.

Man lauscht dem Zwiegespräch zwischen Victorine-Louise Meurent, Manets „Olympia“, und ihrer Zofe Laure, die „schon viel zu lange“ zusammen abhängen, „und die Welt weiß nichts über mich“ (Laure). Erfährt die Leidensgeschichte von Hendrickje Stoffels, der „Badenden Frau“, die sich auf Rembrandt van Rijn einließ, diesem Mann, der „nur malen und saufen und vögeln“ konnte. Staunt über die lyrischen Ambitionen der Dagny Juel, die Edvard Munch in Berlin traf und immer und immer wieder malte, während sie ihm lieber eins ihrer Gedichte vorgetragen hätte. Fühlt mit Valentine Godé-Darel, die von Ferdinand Hodler auf dem Krankenbett verewigt wurde: „Du willst mich mit deinem Schauen festhalten, aber du schaust sowieso nur auf die Umrisse und das Licht. Mich hast du längst ausgelassen. Es ist der Prozess, der dich interessiert. Die Verwandlung. Der Verfall. Alles andere ist dir zu feinstofflich. Mein wahres Ich kannst du nicht malen.“

Lesung Do 19.1., 19.30, Literaturhaus (Busse 18, 172 Mundsburger Brücke), Eintritt 12/8 Euro (erm.), Livestreamticket 6 Euro