Hamburg. Zum Abschluss des Festivals sprach der Schriftsteller über Politik, das Attentat auf Salman Rushdie und eine Leidenschaft fürs Wandern.

Die Lesung mit Ian McEwan Im nahezu ausverkauften Schauspielhaus am Freitag war Schluss- und vielleicht auch ein Höhepunkt des diesjährigen Harbour Front Literaturfestivals, zu dem seit dem 9. September rund 20.000 Besucher kamen. Im Theater – der Großteil des Publikums war weiblich – teilte sich der Autor die Bühne mit Sophie Rois, die die deutschen Texte las, und „Zeit“-Redakteur Dirk Peitz. McEwan, der den semi-autobiografischen Roman „Lektionen“ mitbrachte, drückte im Gespräch seine Bewunderung für seine Kollegen John Updike, Saul Bellow und Philip Roth aus.

Aber auch für seinen Landsmann Charles Dickens, der sein Leben zur Grundlage von acht Romanen gemacht hatte. Rund 25 Prozent der Handlung lasse sich auf eigene Erlebnisse zurückführen, meinte der 74-Jährige und öffnete sein Nähkästchen für einen Blick in seine Schreibwerkstatt. Er sei nicht gut in Romananfängen, räumte er ein. Er greife sich dann immer seine Kladde und einen Füller und experimentiere herum. Diese Phase dauerte vier oder fünf Monate, „dann wusste ich, wie ich schreiben wollte.“ Peitz, der McEwans Antworten ins Deutsche übertrug, musste einmal vom Autor angestoßen werden, der an einer Stelle seinen Redefluss unterbrach und sagte: „Du übersetzen!“

Bevor der Brite die Bühne betrat, fand der 74-Jährige noch ein bisschen Zeit für ein Abendblatt-Gespräch. Auf einen English Breakfast Tea mit Ian McEwan.

Hamburger Abendblatt: Als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben, waren sie nicht in Hamburg, um aus Ihren Büchern zu lesen, sondern um einen einer Klimawechsel-Konferenz teilzunehmen. Sie kamen damals gerade von einer Reise an den Nordpol zurück, die nicht ganz wie erwartet verlaufen war, oder?

Ian McEwan: Sie hieß Svalbard (Spitzbergen). Das Wetter spielte verrückt. Eigentlich sollten wir die Effekte der Klimaerwärmung aus nächster Nähe beobachten, aber plötzlich hatten wir 30 Grad Minus. Trotzdem war alles so schön, da wir konnten sehen, welchen Schaden die Gletscher schon genommen hatten. Ich habe mir damals eine Kabine mit dem Bildhauer Antony Gormley geteilt. Er ist sehr groß und konnte nur schlafen, wenn er seine Füße aus dem Bett heraushängen ließ. Aber es hat Spaß gemacht. Im Gegensatz dazu ist COV27 kein großer Erfolg, die russische Invasion in die Ukraine hat die Welt ziemlich gelähmt, die Wirtschaft und die Politik spalten die Welt. Das ist alles sehr deprimierend.

Sind Sie ein Pessimist?

Momentan ja. Aber im Moment ziehe ich mich daran hoch, dass wir vielleicht gerade das Ende von Donald Trump erleben. Obwohl der ja auch zurückkommen könnte. Wer weiß?

Sie haben gesagt, Sie hätten für dieses Buch Ihre Erinnerungen ausgeplündert. Was passiert mit ihnen, wenn man so etwas macht?

Sie werden fiktionalisiert. Für mich ist ohnehin nichts eine absolut wahre Aufnahme. Ich schiebe Namen, Tatsachen und Daten hin und her. So habe ich den Namen meines Bruders, die Location und seinen Beruf geändert. Aber als ich es ihm gegeben habe, sagte ich zu ihm: Das bist du. Eigentlich ist er Maurer, ich habe aus ihm einen Zimmermann gemacht. Es sollte eben keine Biografie werden.

Am Anfang hat Ihr Protagonist Roland eine Affäre mit seiner Klavierlehrerin. Vorbild dafür war „Notes on a Scandal“ (Tagebuch eines Skandals)?

Es ist lange her, dass ich das gelesen habe. Aber ich habe mich an den Film mit Judi Dench und Cate Blanchett erinnert. Mein guter Freund Richard Eyre hat Regie geführt, mein Freund Patrick Marber das Drehbuch geschrieben. Ich bin ja nicht der erste, der über einen sexuellen Missbrauch einer erwachsenen Frau an einem Jugendlichen schreibt. Eigentlich gibt es nur wenig Gemeinsamkeiten, aber der Film war sehr gut.

Als Julian Barnes den Lenz-Preis gewonnen hat, erzählte er von einem gemeinsamen Winterurlaub mit Ihnen, bei dem sie plötzlich von einer Familie aus Hamburg umzingelt waren und den Brexit erklären sollten.

Das war auch in Bayern. Es passiert mir oft, wenn ich nach Deutschland komme. Die Bürger hier kamen mir sehr traurig deswegen vor. Ich hatte den Eindruck, als wollten sie sagen: Was soll das? Lasst uns bitte nicht mit den Franzosen allein! Ich kam mir vor, wie ein Liebhaber, der sich aus dem Staub macht, und fühlte mich persönlich verantwortlich, war es aber nicht.

Ian McEwan hat eine klare Meinung zum Brexit

Wie präsent ist diese Frage noch in Großbritannien?

Es gibt eine generelle Übereinstimmung, dass man da jetzt nichts machen kann. Wir, die wir in der EU bleiben wollten, warten darauf, dass die andere Seite irgendwie Reue zeigt. Damals war übrigens Labour mit ihrem Führer Jeremy Corbyn für den Brexit. Sie sind also gefesselt und können jetzt nicht dagegen argumentieren. Das ist eine Konsequenz ihrer Dummheit. Dabei haben viele bei Labour die Nachteile gesehen. Gerade die mittelständischen Unternehmen sehen sich enormen Kosten gegenüber, wenn sie ihre Waren exportieren wollen. Das wird unsere Erholung von der Rezession nur noch schwierigen machen.

Warum nennt man Ihr Buch einen Nach-Brexit-Roman?

Ich habe genug dazu gesagt und wollte nicht allzu lange darüber schreiben. Aber es ist immer noch da, weil es eine riesige Veränderung in der Orientierung zur Welt bedeutet. Der rote Faden meines Buchs ist ja, wie politische Ereignisse das private Leben beeinflussen. Gott sei Dank gibt es das Schengen-Abkommen noch. Jeder kann in Europa umherreisen, ohne sich abgeschnitten zu fühlen, obwohl wir das politisch sind. Die Konservativen sind vor zwölf Jahren von den Rechten übernommen worden.

Und dann wird so jemand wie Liz Truss Premierministerin. Riesige Steuereinsparungen anzukündigen, die keinen Bezug zur Welt da draußen haben, das ist Brexit-Mentalität. Dieser Bewegung verdanken wir Liz Truss. Die Tories sind eine sehr erfolgreiche Maschine. Sie gibt den Menschen das Gefühl, sie hätten gerade einen Regierungswechsel erlebt, auch wenn das gar nicht stimmt. Jede neue Verwaltung erhebt den Anspruch, nicht für die Vergangenheit verantwortlich zu sein. Das Land ist in einem schrecklichen Zustand.

Was wird aus Schottland?

Die werden uns verlassen. Es gibt da eine Sorglosigkeit ein wachsendes Gefühl von Feindschaft zwischen den Teilen des Vereinigten Königreichs. Immer, wenn wir einen neuen Premierminister, Mann oder Frau, bekommen haben, war es Usus, dass die zuerst die zuerst die politische Führung der anderen Landesteile angerufen hat. Liz Truss hat das nicht gemacht.

Stimmt es, dass Boris Johnson ein Buch über Shakespeare schreibt?

Ja. Immer noch. Er schreibt das schon seit Jahren. Ein Kollege von mir, den Namen will ich hier nicht nennen, schreibt gerade ein Buch über einen Autor, der von Johnson gebeten wird, den zweiten Teil seines Buchs als Ghostwriter zu übernehmen.

Jemand hat Sie mal ein „nationales Gewissen“ genannt. Ist Ihnen das recht?

Romanautoren sollten sich nicht zu stark an Identitäten binden lassen. Also bin ich dagegen. Man möchte sich doch leicht und frei durch die Ereignisse bewegen.

Am Ende des Romans reden sie über den Tod, fast schon auf empörende Weise. Man möchte doch wissen, wie es weitergeht, schreiben Sie.

Wir leben in interessanten Zeiten und ich will unbedingt wissen, wie einige Sachen ausgehen. Wir sind oft nicht gut darin, unsere Gegenwart zu beurteilen. Wenn ich optimistisch in die Zukunft blicke, dann weil ich hoffe, dass wir da einige Tendenzen noch nicht erkannt haben, technologische wie auch politische und kulturelle.

Attentat auf Salman Rushdie schockte Ian McEwan

Sie sind eng mit Salman Rushdie befreundet. Wissen Sie, wie es ihm nach dem Attentat geht?

Er macht gute Fortschritte und ist kurz davor, ein neues Buch herauszubringen. Man sollte nicht mehr über ihn als Opfer nachdenken, sondern als einen hart arbeitenden wunderbaren Schriftsteller. Er möchte wieder zurück in die normale Welt. Er hat eine große Widerstandsfähigkeit, einen guten Sinn für Humor und Unfug. Er wird bald zurück sein. Aber die Tat war natürlich schockierend.

Ihr Buch erinnert von Ferne an ein Road Movie.

Aber ohne eine Straße, die wird in diesem Fall von der Zeit verkörpert. Man folgt einem Charakter durch alle seine Veränderungen hindurch. Das hat schon die Qualität einer Reise. Mein Lieblings-Road-Movie ist übrigens „Im Lauf der Zeit“ von Wim Wenders.

Gehen Sie noch ins Kino?

Ich sehe Filme fast ausschließlich zu Hause, gerade seit der Pandemie. Im Kino bin ich schon vier Jahre nicht mehr gewesen.

Stimmt es, dass Ihre Lieblingsbeschäftigung - abgesehen vom Schreiben - das Wandern ist?

Ja. Das ist eine der großen Kraftquellen meines Lebens. Ich kann mir nicht vorstellen, das nicht zu tun. Hier sitzen wir auf diesem Felsen, keine andere Lebensform in Milliarden von Meilen um uns herum. Dafür aber eine unwahrscheinliche Vielfalt an Landschaften, Schönheit, Pflanzen und Wasser.

Könnten Sie drei Gegenden erwähnen, die man gesehen haben sollte?

Ende Juli in den europäischen Alpen in 2000 Metern Höhe. Wenn man dann noch auf einen kleinen Wanderpfad kommt, der einen zu einem kleinen Bergsee führt, in dem man badet, obwohl das Wasser eiskalt ist. Das ist ein großes Vergnügen. Es hat mir großen Spaß bereitet, das Tramuntana-Gebirge auf Mallorca zu erwandern. Eine der schönsten Landschaften in Europa liegt im Nordwesten Schottlands. Im Vergleich zu anderen Gebirgen sind die Berge dort eher flach, so um die 1000 Meter. Aber das Licht! Die Sonne geht im Westen hinter den Inseln unter. Das Wasser ist sehr sauber. Näher als dort kommt man in Großbritannien der Wildnis nicht.

Schreiben kann ein ziemlich einsamer Beruf sein. Haben Sie Kontakt zu Ihren Kollegen?

Oh ja. Ich fühle mich nicht einsam, als junger Autor war das anders. Vielleicht erlahmt der soziale Hunger etwas, wenn man älter wird. Ich lebe zwar auf dem Land, sehe aber trotzdem oft Freunde.

Die Fußballweltmeisterschaft in Katar ist gerade gestartet. Ist das für Sie ein Thema?

Ich bin ein Schönwetter-Fan. Wenn England oder Schottland ins Finale kommen, schaue ich mir das an. Mein größtes Vergnügen ist es aber Rugby-Matches anzusehen. Ich habe es in der Schule oft selbst gespielt. Ein gutes Tennis-Match ist auch nicht zu verachten.

Ian McEwan hat eine innige Beziehung zu Hamburg und Deutschland

Sie sind häufiger in Hamburg gewesen. Haben Sie besondere Erinnerungen an diese Stadt?

Einmal bin ich von der Toepfer-Stiftung eingeladen worden, um den Shakespeare-Preis entgegenzunehmen. Das hat mich sehr berührt. Ich habe gedacht: Das ist erstaunlich. Was wäre, wenn man in Großbritannien einen Preis nur an deutsche Autoren vergeben würde? Mir kam das kulturell sehr großzügig vor, es hat mich berührt. Die Liste der Preisträger war superb.

Wir haben einen sehr schönen Abend zusammen erlebt. Als mich eine amerikanische Zeitschrift bat, drei für mich bedeutende Gegenstände herauszulegen, war auch die Shakespeare-Medaille dabei. Aber ich war schon im Alter von 13 Jahren hier, um Fotos bei Hagenbeck zu machen. Ich habe viele sinnlose Fotos von Flamingos. Auch den Berliner Mauerbau habe ich 1961 fotografiert.

Sie scheinen ohnehin ein inniges Verhältnis zu diesem Land zu haben, wie man ihrem Buch entnehmen kann. Fast jeder Deutsche weiß, wo er gewesen ist, als er 1989 vom Mauerfall erfuhr. Wissen Sie es noch?

Ich habe mir das erste Flugzeug nach Berlin geschnappt. Als ein Kran am Potsdamer Platz die ersten Mauerelemente aus den Fundamenten hob, war ich dort. Ich erinnere mich an Unmengen von Kaninchen. Was ist nur aus ihnen geworden? Wir haben gefeiert, und die Kaninchen haben nachgedacht.

Ich habe damals einen Roman geschrieben, der in Berlin spielt: „The Innocent“ (Unschuldige: Eine Berliner Liebesgeschichte). Dafür hatte ich sehr viel in der Zeit des Kalten Krieges recherchiert. Im Juni 1989 wurde ich fertig und habe den Fall der Mauer vorhergesagt. Fünf Monate später passierte es tatsächlich. Aber mein Roman kam erst im März 1990 heraus. Alle glaubten, ich müsste das mit de Mauerfall im Nachhinein geändert haben. Keiner hat mir geglaubt