Hamburg. Im Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ stehen Mutter und Tochter im Fokus. Ein Gespräch mit der Autorin und dem Regisseur.
Am heutigen Donnerstag eröffnet Hakan Savaş Micans Inszenierung von Sasha Marianna Salzmanns Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“, ein Mutter-Tochter-Drama vor dem Hintergrund des Zerfalls der Sowjetunion, das Festival „Nachbarşchaften – Komşuluklar“ im Thalia Gaußstraße. Ein Gespräch über Kunst, Krieg und Menschlichkeit.
Sasha Marianna Salzmann, Ihr Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ erschien 2021, noch vor der Eskalation des Krieges in der Ukraine. Ist das heute eigentlich noch derselbe Stoff?
Salzmann: Ich habe ja damals schon über einen Krieg geschrieben. Schon seit 2014 gab es mit der Annexion der Krim durch Russland Krieg in der Ukraine, und ich habe mich bei meiner Recherche für den Roman gefragt, warum wir uns so wenig für den interessieren, inklusive mir selber. Die Familie um mich herum war immer eine ukrainisch-russisch-jüdische Mischpoke, aber was ab 2014 genau abging, habe ich nur partiell verstanden. Ich dachte, ich muss mich mit den Leuten hinsetzen und mit denen reden, aber wissen Sie, was das Schöne ist an Kunst? Man redet nicht über Tagespolitik, man redet darüber, wie man die Kinder erzieht, worüber man sich Sorgen macht, das wird plötzlich alles sehr unmittelbar.
Warum haben wir den Krieg vor dem russischen Überfall im Februar eigentlich kaum wahrgenommen?
Salzmann: Weil wir nicht gelernt haben, Ukraine zu denken. Das ist Stalins Sieg über uns: Stalin hat dafür gesorgt, dass wir nichts von diesem Land wissen. Er hat vor allem die Kulturnation der Ukraine angegriffen, mit der Unterdrückung der ukrainischen Sprache, der systematischen Ermordung von ukrainischen Künstlern seit den 1920er-Jahren. 100 Jahre Ermordung von ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern haben es geschafft, dass die Ukraine nicht mehr auf unserer emotionalen Weltkarte vorkommt, und deswegen wissen wir nichts von der Ukraine: weil sie emotional bei uns nichts triggert.
Sie haben eine spezielle Bühnenfassung geschrieben. Inwiefern ist das tatsächlich ein Bühnenstoff?
Mican: Von der Dramaturgie des Buches her kommt man nicht sofort auf die Idee, zu sagen: „Das ist der perfekte Stoff für die Bühne!“ Aber wenn man die Mutter-Tochter-Beziehungen im Buch anguckt und sich ein bisschen damit auseinandersetzt, was das für Narben sind, die die Vergangenheit bei diesen Menschen verursacht hat, was das für ein Kampf war in den Achtzigern und Neunzigern in der Sowjetunion und was für eine Last die Figuren mitgeschleppt haben nach Deutschland, die sie bewusst oder unbewusst an die nächste Generation gegeben haben, wenn man also in dieses Zwischenmenschliche reingeht, dann merkt man: Da ist viel Stoff fürs Theater! Ich habe in der Probenphase von Sasha ukrainische Bücher, Musik und Filme bekommen, und vor allem die Musik hat bei mir etwas emotional aufgemacht. Da sind so großartige Sachen dabei! Und wenn ich sehe, was das für einen emotionalen Raum bei mir geöffnet hat, hoffe ich natürlich, dass das genauso beim Publikum passiert.
Der Roman wurde bei Erscheinen ziemlich gelobt. Im Berliner „Tagesspiegel“ stand: „Offenbar liegt das Epische Salzmann mehr als das Dramatische.“ Jetzt ist es doch was Dramatisches geworden. Machen Sie da überhaupt einen Unterschied?
Salzmann: Das sind zwei unterschiedliche Disziplinen. Heiner Müller hat mal gesagt, Theaterstücke schreibe man im Gehen und Romane im Sitzen – das ist ein richtiges Bild dafür, was wir da tun. Theater ist sozial, immer in Bewegung, das hat einen ganz bestimmten Rhythmus, und die Texte müssen da mitgehen. Bei einem Roman stellt man einen Text hin, an dem nicht mehr gezimmert wird, das kann man nur in absoluter Einsamkeit und Stille. Zumindest kenne ich das so. Insofern das ist eine sehr bewusste Entscheidung gewesen.
Von wem kam denn die Idee, den Stoff auf die Bühne zu bringen?
Mican: Das weiß ich gar nicht mehr. Aber wenn ich ein Buch von Sasha lese, mache ich mir immer Gedanken, ob man es auf die Bühne bringt. Wir kennen uns schon sehr lange, ich habe mehrere Texte von Sasha inszeniert, das steht einfach im Raum.
Salzmann: Hakan war mein erster Regisseur auf einer professionellen Bühne, seit er 2012 am Berliner Ballhaus Naunynstraße mein frühes Stück „Beg Your Pardon“ inszeniert hat. Ich habe an der Universität der Künste studiert, und ich habe da gesehen, wie Kolleginnen inszeniert werden – und das hat mir Angst gemacht. Ich hatte das Gefühl, es ist egal, was da für Menschen auf der Bühne stehen. Aber Hakans Arbeit handelt immer von Menschen. Und ich will ein Theater sehen, in dem es Regisseure gibt wie Hakan, die sich für das Menschliche interessieren, für den universellen Schmerz und die universelle Liebe.
Mican: Das ist das Schöne an Sashas Texten: Das sind Menschen, die begegnen sich. Ich sage meinen Schauspielern immer: Ich möchte, dass ihr euch berührt! Nicht körperlich, sondern seelisch und emotional. Und dann entsteht eine tolle, interessante Theatersituation, bei der ein Publikum mit dabei sein kann.
„Nachbarşchaften – Komşuluklar“ im Thalia Gaußstraße (27.10 bis 6.11.) existiert seit 2021. Ging es im Vorjahr noch darum, die Nachbarschaft zum migrantisch geprägten Altona zu pflegen, hat es sich mittlerweile zu einem vollwertigen, kuratierten Festival entwickelt. Neben der Eigenproduktion „Im Menschen muss alles herrlich sein“ sind mit „NSU 2.0“ vom Schauspiel Frankfurt und „Dschinns“ vom Nationaltheater Mannheim zwei hochkarätige Gastspiele zu sehen, außerdem gibt es u. a. mit „Silivri. Prison of Thought/Museum of Small Things“ eine Videoinstallation von Can Dündar und Hakan Savaş Mican. Vollständiges Programm: www.thalia-theater.de