Hamburg. Der „Oscar“ der internationalen Dokumentarfotografie wurde an Werke vergeben, die den Zustand unser Welt widerspiegeln.

An einem Straßenrand sind rote Kleider an Holzkreuzen aufgehängt. Sie erinnern an die Kinder, die in der Kamloops Indian Residential School, einer Einrichtung zur Assimilierung indigener Kinder, starben. Die Fotojournalistin Amber Bracken schoss dieses Bild am 19. Juni 2021 in Kamloops, British Columbia, nachdem dort 215 nicht gekennzeichnete Gräber durch Bodenradare entdeckt worden waren. Es wurde zum World Press Photo of the Year 2022 gekürt und ist aktuell in einer Ausstellung im Altonaer Museum zu sehen.

Erschüttert liest man die Hintergrundgeschichte dieser Art Internatsschulen, in denen schätzungsweise 150.000 Mädchen und Jungen aus verschiedenen indigenen Gemeinschaften von europäischen Kolonialisten und Missionaren gewaltsam von ihren Eltern getrennt, in einer ihnen fremden Sprache „unterrichtet“ und körperlich, manchmal auch sexuell, misshandelt wurden.

Ausstellung Hamburg: Fotos zeigen grausame Schicksale

Doch Zeit zum Nachbetrachten und Verarbeiten bleibt nicht. Denn sofort wird die Aufmerksamkeit auf weitere Schicksale gelenkt: die der unter Bandengewalt leidenden Viehbauern im südlichen und westlichen Madagaskar oder die der mit den verheerenden Waldbränden kämpfenden Bevölkerung auf der griechischen Insel Evia – ein Foto zeigt eine alte Frau schreiend vor einer in lodernden Flammen stehenden Häuserkulisse. Auch dies ein starkes Bild – ausgezeichnet mit dem World Press Photo Europe –, aber es berührt nicht wirklich. Warum?

Vielleicht, weil der „Oscar“ der internationalen Dokumentarfotografie unter denselben Bürden der digitalen, globalisierten Welt leidet, die schon die Triennale der Photographie thematisierte: Bilder und Berichte von Krisen und Kriegen aus der ganzen Welt, die Nachrichtenkanäle und soziale Medien überfluten; Menschen, die angesichts dieser übergroß und unlösbar erscheinenden Konflikte und Probleme dazu tendieren, abzuschalten.

Bilder in Zeiten von Fake News eine starke Währung

Und doch will sich dieser wichtige Preis, der die besten Fotografien des Jahres in einer Wanderausstellung an insgesamt 100 Standorten zeigt, ebenso wie das gerade zu Ende gegangene Hamburger Fotofestival dagegen stemmen, dass Bilder ihre Wirkung verlieren. Zeigen, dass sie immer noch oder gerade in Zeiten von Fake News und Vertuschung eine starke Währung sind.

64.823 Bilder wurden von 4066 Fotografinnen und Fotografen aus 130 Ländern eingereicht. Um dieser Flut Herr zu werden und weil man ohnehin den Award diverser gestalten wollte, wurden regionale Teams gebildet, die eine Vorauswahl trafen. „Somit konnten wir sicherstellen, dass ein wirklich tiefes Verständnis für die jeweilige Situation im Land vorhanden ist“, sagt Kuratorin Julia Kozakiewicz. Eine unabhängige Jury kürte schließlich 24 fotografische Arbeiten über fünf Kontinente verteilt in den Kategorien Einzelfoto, Langzeitprojekt und Story.

Zustand unserer Welt "nicht besonders positiv"

Bisher gewohnte Rubriken wie die beeindruckendste Naturfotografie oder die spektakulärste Sportaufnahme gehören der Vergangenheit an. „Das führt dazu, dass eben kein Schneehase zu sehen ist“, sagt Anja Dauschek, die den World Press Photo Award erstmals in diesem Jahr im Altonaer Museum ausstellt, denn auch die Ausrichtung im Verlagshaus Gruner + Jahr am Baumwall ist passé. Für die Direktorin stehen die gezeigten Bilder „für den Zustand unserer Welt heute. Und der ist nun mal nicht besonders positiv.“

Was geblieben ist: Die Zeitschriften „Stern“ und „Geo“, seit 25 Jahren engagiert, präsentieren den Preis auch weiterhin. „Geo“-Fotochef Lars Lindemann lobt, wie weit mittlerweile die internationale Dokumentarfotografie von der Prägung durch „alte weiße Männer“ entfernt sei, und stellt – wie zum Beweis – die preisgekrönte Fotografin Nanna Heitmann vor, die als erste Frau überhaupt sich initiativ bei der Agentur Magnum Photos bewarb und prompt engagiert wurde. Sie zeigt ihre Serie „As Frozen Land Burns“ über Waldbrände in Jakutien, die das Abtauen des Permafrosts extrem beschleunigen. Wie im überwiegenden Teil der prämierten Arbeiten werden auch bei ihr die Menschen lediglich als Opfer, in diesem Fall einer Naturkatastrophe, dargestellt.

Bilder zeigen Protagonisten als aktiv Handelnde

Anders dagegen arbeitet der Fotograf Matthew Abbotts (ausgezeichnet mit „Story of the Year“): Er begleitete eine Gemeinde im australischen Arnhem Land beim „Cool Burning“, dem strategischen Abbrennen der Böden, um Waldbrände zu verhindern, und zeigt die Menschen als aktiv Handelnde.

Lalo de Almeida, der für seine Reportage „Amazonian Dystopia“ mit dem Langzeitprojektpreis ausgezeichnet wurde, steuert das wohl ungewöhnlichste Foto zur Ausstellung bei: Es zeigt Mitglieder der Munduruku-Gemeinde, die am 14. Juni 2013 am Flughafen Altamira im brasilianischen Pará darauf warten einzuchecken, nachdem sie gegen den Bau des Belo-Monte-Staudamms in der Hauptstadt Brasilia protestiert hatten. Beide Beispiele zeigen die Protagonisten als aktiv Handelnde; dies ermöglicht eine andere Perspektive auf ein Problem und eine höhere Identifikation.

Ausstellung Hamburg: Krise als Chance sehen

Corona-müde: Antonella beim Lernen im Bett.
Corona-müde: Antonella beim Lernen im Bett. © Irina Werning, Pulitzer Center

Das Opfer, das die zwölfjährige Antonella aus Buenos Aires erbringt, als sie nach den Corona-Beschränkungen, Zoom-Konferenzen, Homeschooling und häuslicher Ödnis endlich wieder zur Schule gehen darf, nämlich sich von ihrer langen Haarpracht zu trennen, bringt uns die Fotografin Irina Werning mit sehr persönlichen Bildern nahe. Krise als Chance – wenn auch nur für eine neue Frisur.

„World Press Photo 2022“ bis 27.10., Altonaer Museum (S Altona), Museumstraße 23, Mo, Mi–Fr 10.00–17.00, Sa/So 10.00–18.00, Eintritt 8,50/5,- (erm.), www.shmh.de