Hamburg. Ob die klassische Sommerliebe oder eine hellsichtig mit der Gegenwart verknüpfte Fluchtgeschichte. Es gibt reichlich zu lesen.
Die erste Urlaubsregel: immer ein Buch dabei haben. Immer. Es kann zum Beispiel schon beim Check-in oder bei der Gepäckausgabe helfen. Und wenn es nicht ums Zeitverkürzen geht, sondern um baumelnde Seelen und entspannt abgelegte Körper am Pool, die nach ein wenig Geist verlangen, oder eine Abendlektüre auf dem Sommerbalkon: Hier sind unsere Empfehlungen.
Bücher im Urlaub für die Fernreise:
Kein Mensch, und auch nicht einer vom Nordpol, sollte die Erfahrung der Sommerliebe missen müssen. Die Sommerliebe ist ein Menschenrecht. Christian Hubers Roman „Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ (dtv, 22 Euro) erzählt von Pascal, der 15 ist und Probleme hat, wie sie nur Teenager haben können. Speziell Teenager des ausgehenden Jahrtausends, denn die Handlung ist 1999 angesiedelt. Aber Jacky, das rothaarige Powergirl, ist von zeitlosem Tollsein, in die verliebt man sich in allen Zeiten. Dieses Buch ist wie das heiße Flirren der Luft, man könnte es auf einem langen Trip im Zug nach Marseille, Rom oder nach Andalusien weg-suchten. Da liest es sich kommoder als im Flieger.
Die Urlaubsbücher-Tippseite als Ort für grünes Bewusstsein? Warum nicht. Weil man ja auch im E-Auto durch die Gegend kariolen kann. Das würde der gelernte Motorradmechaniker und promovierte Philosoph Matthew B. Crawford sicher in mancherlei Hinsicht gutheißen. Aber sein in viele Richtungen stimulierendes Sachbuch „Philosophie des Fahrens“ (Ullstein, 26,99 Euro) ist insgesamt forsch gegen den Fortschritt gerichtet, indem es die Freiheit des individuellen Fahrens preist und die Zukunft des „autonomen Fahrens“, in der nicht mehr die eigene Hand am Steuer liegt, einer leidenschaftlichen Kritik unterzieht. Kontrolle statt Passivität ist sein Credo, Abenteuer statt Regelung. Klingt amerikanisch und bedenkenswert, aber für jeden kann Freiheit etwas anderes bedeuten. Wer nicht mehr selbst fahren muss, kann, das Beispiel liegt nahe, zum Beispiel ein Buch lesen...
Ob die Bretagne eine Fernreise ist? Aus Hamburg nur halb. Es muss aber ja keineswegs das Fernreisenungetüm Australien sein, auch nicht Afrika. Letzteres streift der große Jean-Marie Gustave Le Clézio in seinem Buch „Bretonisches Lied“ (Kiwi, 22 Euro) immerhin, denn er verbrachte Teile seiner Kindheit in Afrika. Sie schimmern hier am Horizont, nicht mehr; „Betronisches Lied“ handelt von den Jahren 1948 bis 1954 (zeitlich also ganz klar eine Fernreise) und den Kindheits- und Jugendjahren auf Urlaubsfrische im Westen Frankreichs. Die Ahnen der Familie Le Clézio stammten aus der Bretagne, und das Heimkommen wird auf zwei Ebenen geschildert, im Früher und im Heute, als Jugendlicher und alter Mann. Die zweite Essay-Erzählung des Bandes handelt von Le Clézios kindlicher Kriegserfahrung und ist ebenso lesenswert wie die erste, außerdem bedauerlicherweise überaus aktuell.
Ach, Cape Cod, da wollten wir doch immer mal hin. Wer’s in diesem Jahr tatsächlich angeht, das Bereisen der Atlantikküste in Massachusetts, dem sei als flankierende Lektüre Miranda Cowley Hellers Bestseller „Der Papierpalast“ (Ullstein, 23,99 Euro) empfohlen. Die Autorin ist nicht irgendwer, sondern die Ex-Serien-Chefin von HBO (genau, „The Sopranos“, „The Wire“), also firm, was Erzählstoffe angeht. Nicht verwunderlich, dass „Der Papierpalast“, jenes Sommerhaus-Familienstück mit mittellebenszweifelnder Hauptfigur ein Instant-Hit wurde, der, ebenso wenig verwunderlich, als Serie verfilmt werden soll. Mit Elle Bishop ist es endlich mal eine Frau, die eine gewisse Das-kann’s-noch-nicht-gewesen-sein-Panik bekommt und sich fragt, ob sie mit 50 in amouröser Hinsicht noch einmal etwas Neues wagen soll. Mit einer Jugendliebe eine Nacht verbringen, das kann entweder eine nostalgische Sexkatastrophe werden oder das Gegenteil davon. Hier ist es letzteres, und da muss man dann rekapitulieren, welcher Lebensentwurf was wert ist. Smart erzählt, sicher hie und da mit Wiedererkennungswert.
Bücher im Urlaub für den Städtetrip:
„Stay away from Gretchen“ war einer der sogenannten Überraschungshits im Buchgeschäft. Susanne Abel traf mit ihrem Debüt einen Nerv und ihrer tief in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts wurzelnden Erzählung der 84 Jahren alten Greta, die aus Ostpreußen kam, sich in Heidelberg etablierte und Kinder groß zog. Es gab ein dunkles Geheimnis, das sich vor der zweiten Hauptfigur, Gretas Sohn Tom, auftat. Das gibt es nun auch im zweiten Band der anschaulich und historisch akkurat in Szene gesetzten „Gretchen“-Reihe. In „Was ich nie gesagt habe: Gretchens Schicksalsfamilie“ (dtv, 23 Euro) stößt Tom auf seine Halbgeschwister – und die bewegte Geschichte seine Vaters, der in sehr jungen Jahren in den Krieg musste und auch danach ein deutsches Leben seiner Zeit lebte.
Von Heidelberg nach Nirgendwo. Beziehungsweise in den Transit. Adeline Dieudonné erzählt in ihrem sensationell kurzweiligen Episodenstück „23 Uhr 12 – Menschen in einer Nacht: Ein Roman in zwölf Geschichten“ (dtv, 18 Euro) von einer zufällig an einer Autobahnraststätte aufeinander treffenden Gruppe von Menschen. Und einem Pferd. Eigentlich von noch mehr Tieren, etwa einem Delfin, der die entscheidende Rolle im Leben eines zur körperlichen Liebe nicht fähigen Models spielt. Es gibt hier auch einen Schlachter, der weinend Schweine umarmt, wenn er gekifft hat. Dieudonnés Aufblendungen des mindestens skurrilen, wenn nicht bizarren Lebens ergeben zusammen die ideale Lektüre für ein Wochenende in Lissabon, Wien, Amsterdam. Zwischen Museum und Shoppingmeile passt immer eine dieser Geschichten.
Der neue Roman von Marie-Alice Schultz ist ein erzählerischer Trip von Stadt zu Stadt, von Wien nach Hamburg. In letzterem sitzt die Erzählerin, die wie die Romanautorin Marie-Alice heißt, und grübelt über grundlegende Fragen. Wie es nach einem großen Verlust weitergeht im Leben. Wie man mit und für die Kunst lebt. In Wien dagegen, dem zweiten Handlungsort von „Der halbe Apfel“ (FVA, 22 Euro), wird eine Patchworkfamilie mit zwei Vätern und einer Mutter für ein Kleinkind erprobt. Die Schultz-Prosa hat einen gemächlichen Beat, der hervorragend zu trägen Tagen passt und deren Langeweile gleichzeitig vertreibt.
50 Jahre alt ist das cineastische, stilbildende Meisterwerk „Der Pate“ in diesem Jahr geworden. Viel Holz auf der Zeitleiste. Darf man nicht zu lange drüber nachdenken, man altert ja mit. Es sei allen, die die erstmals 1969 erschienene literarische Vorlage aus der Feder von Mario Puzo nicht gelesen haben, genau diese in einer Neuauflage (Kampa, 24,90 Euro) als Trip ins italoamerikanische New York der Jahre nach 1945 anempfohlen. Don Corleone und die Seinen in einem historischen Thriller, das ist zeitlos stark.
Unverdrossenes, sehr szenisches amerikanisches Erzählen spendiert in diesen Tagen auch Thriller-König Don Winslow. Aber Obacht, sein neues Buch „City on Fire“ (HarperCollins, 22 Euro) ist der Anfang seiner Abschiedstournee. Und der erste Teil einer Mafia-Trilogie, wie Winslow verspricht. In Rhode Island befehden sich Iren und Italiener auf blutige Weise, sieh da: Mobster-Vereinigungen gibt es auch in der Provinz, und von ihnen zu erzählen, lohnt allemal. Wenn man es so macht wie Winslow, also messerscharf, smart und mit Lust an der maskulinen Eskalation. Gewalt ist anziehend, sofern sie nur zwischen zwei Buchdeckeln stattfindet.
Bücher für den Urlaub an der Küste:
Auch in der Sommerfrische will man mitreden können. Thema Nummer eins an den Stränden der Ostsee: Heinz Strunks „Ein Sommer in Niendorf“ (Rowohlt, 22 Euro). Sein katastrophal im Ostseebad abstürzender Anwalt Georg Roth wird in der Neustädter Bucht doch glatt zum Alkoholiker. Dass er den Ort seines auf drei Monate angelegten Ostsee-Intermezzos meist unfreundlich betrachtet, kann, muss aber nix mit dem Promillegehalt seiner Gedanken zu tun haben. Roths böser Blick auf das Menschengeschlecht im Allgemeinen und Niendorf im Besonderen ist in seiner Direktheit höchst amüsant. Muss man gelesen haben, am besten am Timmendorfer Strand.
Wo wir beim Lästern waren: Chloé Delaume hat einen herrlich bösen Roman für zwei Strandnachmittage geschrieben. Wer ist bemitleidenswerter, die mittelalte Single-Frau oder der Literaturbetrieb? Antwort: Die mittelalte Single-Frau im Literaturbetrieb! Auch weil sie es dort mit den Gespreiztheiten des Patriarchats zu tun bekommt. „Das synthetische Herz“ (Liebeskind, 20 Euro) ist überaus französisch, amüsant und pointiert, die Romanheldin Adélaïde Berthel eine Frau, der man alles Glück der Welt wünschte – wäre ihr amouröses Scheitern nicht viel interessanter.
Wo Sommer ist, ist die Liebe nicht fern. Wer das Sujet theoretisch durchsteigen möchte, ist im Liebesroman gut aufgehoben. Den besten hat in dieser Saison der wunderbare Erzähler André Kubiczek geschrieben. Okay, „Der perfekte Kuss“ (Rowohlt, 24 Euro) hat noch mehr Themen als die Liebe; etwa die letzten Jahre der DDR, die Jugend im Sozialismus, das Ich und die Gesellschaft ganz allgemein. Aber im Zentrum, wie bereits in zwei weiteren Kubiczek-Romanen, steht der Teenager René, der zwischen Ausbildung, Popkultur, Freundschaft und Liebe seinen Weg finden will. Es ist das Jahr 1986, wir sind in Halle, und René – der an der Arbeiter- und Bauernfakultät fürs Leben lernen soll – kommt endlich mit Rebecca zusammen, der alten Freundin aus Potsdam und Tochter zweier Künstler. Doch dann ist Rebecca mit einem Mal weg. Kubiczek schreibt so treffend wie kaum ein anderer über ein Jungsein, das das Pulsen der Zeit aufnimmt, in der es stattfindet. Allerbeste Juli-Lektüre!
Isora nennt ihre Großmutter, bei der sie aufwächst, dreist „Bitch“. Und behaupt, das sei das englische Wort für Oma. Isora kotzt, weil sie schlank bleiben will. Für die Ich-Erzählerin ist Isora die wichtigste Person der Welt. Die Spanierin Andrea Abreu hat mit „So forsch, so furchtlos“ (Kiwi, 20 Euro) ihrem Heimatland vor zwei Jahren einen rotzigen, expliziten Roman über eine Teenagerfreundschaft hingeknallt. Er spielt weitgehend auf Teneriffa, wo die beiden Mädchen im Norden, bei den Vulkanen, abhängen und von Strandstunden nur träumen können. In der Erzählerin lodert zunächst nur unterschwellig das Begehren nach Isora, die aber lieber mit „bescheuerten Jungen“ mitgeht. Die Anarchie der Jugend, das Feuer der entdeckten Sexualität, Schmerz, Trauer, Euphorie – in diesem Buch ballt sich das alles zu einem explosiven Mix. Eine Adoleszenz auf den Kanaren: Damit wurde Andrea Abreu aus Teneriffa zum Star in Spanien.
Bücher im Urlaub für Balkonien:
Einer der, vielleicht, unterschätztesten amerikanischen Gegenwartsautoren ist Gary Shteyngart. Sein neuer, gerade auf Deutsch erschienener Roman heißt „Landpartie“ (Penguin, 25 Euro) und ist: ein großer Spaß. Russischstämmiger Schriftsteller lädt im Lockdown andere Kulturmenschen in sein Landhaus an der Ostküste, für viele Monate, es folgt: Geistreiches Gespräch, lästerndes Gewäsch, Romantik, Sex, Eifersucht, Streit, Versöhnung. Nach feurigen Dialogen und rasanter zwischenmenschlicher Action kommt am Ende ein Hollywoodstar. Bis auf die letzte Volte kann man, sitzend und lesend auf dem Balkon, diesen ganzen prallen Inhalt für den eigenen Hinterhof imaginieren: Hier sind sie, die Menschen, leben, lieben und lesen wie wir selbst.
Zuletzt veröffentlichte Eckart Nickel einen Band mit Reiseerzählungen, auf Toplevel. Jetzt liegt sein zweiter Roman vor – „Spitzweg“ (Piper, 22 Euro). Ja, wie der Maler. Aber bloß nicht in der Dachkammer lesen, zu heiß jetzt, und wir sind ja auch keine armen Poeten. Sondern, im besten Fall für diesen anspielungsreichen Schulroman, verbalen Schlaumeiereien aufgeschlossene Balkon-Romanleserinnen und -leser, die sich gern vom Sommerwehen belüften lassen. „Spitzweg“ handelt von drei extra-eloquenten Schülern, die die Künste lieben und nachdem eine von ihnen von der Lehrerin einen mitbekam, ein kleines Spiel mit der Wirklichkeit beginnen. Ein unterhaltsames Kunstessay in Romanform!
Apropos Biedermeier: Seit Angela Merkels kürzlich inszenierter Rückkehr in die Öffentlichkeit weiß man, dass drei ihrer grundlegenden Reden in Buchform vorliegen. „Was also ist mein Land?“ (Aufbau, 8 Euro) ist dann jetzt verspätet ein Bestseller geworden, obwohl oder gerade weil zu Merkels Vermächtnis nun irgendwie auch ein Krieg in Osteuropa gehört. Eine große Rednerin war sie nie, aber der Idealismus einer großen Staatsfrau ist, als Buch, für dessen Besitzer halt auch ein Statement.
Eine Reise, die den Begriff „Heimat“ erforscht, beschreibt auch und doch ganz anders die Journalistin Christiane Hoffmann, die heute Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung ist. „Alles, was wir nicht erinnern“ (C.H. Beck, 22 Euro) heißt ihr kluges, literarisches, empathisches Buch, das genau zur richtigen Zeit erschienen ist. Der Untertitel verrät die persönliche Geschichte, die darin steckt, und die nicht nur, aber eben auch durch das Echo der Gegenwart viel, viel mehr ist als ein Selbsterfahrungstrip: „Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters“. Hoffmanns Vater floh 1945 aus dem schlesischen Dörfchen Rosenthal, das heute in Polen liegt, bis nach Wedel. Seine Tochter macht es ihm nach, um zu verstehen. Ihn, sich, die Erinnerung, die europäische Landkarte, die Weltlage. „Zu Fuß?“, fragen verblüfft bis fassungslos die Menschen, auf die sie unterwegs stößt. „Zu Fuß.“ – „Allein?“ – „Allein.“ Der Marsch ist auch ein Navigieren durch die Vorgeschichte zum aktuellen Krieg. „So ist das mit uns Menschen, wir sind meist übertrieben zuversichtlich“, schreibt Hoffmann. „Wir glauben, dass wir mit der Vergangenheit fertig sind.“ Aber unter der Asche glimmt die Glut. Ein erschreckend hellsichtiges Buch einer politisch wie menschlich aufmerksamen Beobachterin.