Scheeßel. Nach zwei Jahren Corona-Pause feierten 78.000 Musik-Fans in Scheeßel. Beim Auftritt der Hamburger Band gab es einen Zwischenfall.
Saskia Lavaux bringt es mit ihrer Band Schrottgrenze auf den Punkt: „Gib mir Schönheit, gib mir Schmutz“, singt sie am frühen Mittag auf der Hauptbühne des Hurricane Festivals in Scheeßel. Ein furioser Auftakt für diesen Open-Air-Sonnabend. Für dieses Fest aus Schweiß und Staub.
Wie fühlt sie sich an, diese erste große Freiluftsause in Norddeutschland nach zwei Jahren Corona-Abstinenz? „Wir brauchen Platz für Utopien“, proklamiert Schrottgrenze mit ihrem queeren Indierock. Und da sind sie wieder, all die strahlenden Leute. Sie formen Herzen mit ihren Händen. Sie tragen Dreck und Glitzer in ihren Gesichtern. Eine Regenbogenflagge als Rock umgewickelt. Ein Rehgehörn aus Plüsch auf dem Kopf. Sich endlich wieder aneinander erfreuen. All die Kostüme und Botschaften aufsaugen. „The eagle hasn’t landed“ ist auf vielen T-Shirts zu lesen. Eine Solidaritätsadresse all jener, die für das Hurricane 2020 bereits ein Ticket gekauft hatten. Passend dazu auch das diesjährige Festival-Wappentier, das Eichhörnchen. Jetzt können alle sorgsam abgelegten Reserven wieder ausgebuddelt werden: Eintrittskarte und Campingausrüstung, Sozialkompetenz und Partyeuphorie.
Rückkehr des Hurricane-Festivals: Vergrößerung des Geländes
Gepflegtes Ausrasten klappt bei dem druckvollen Indierock von The Lathums schon recht gut. Diese blutjunge britische Band spielt auf der Zeltbühne, die in diesem Jahr neu positioniert wurde und nun am einstigen Einlass zum Zeltplatz steht. Somit hat der Hamburger Veranstalter FKP Scorpio das Festivalgelände vergrößert, was bei einer Menge von 78.000 Besucherinnen und Besuchern pro Tag angemessen erscheint. Eine geballte Ladung Mensch, die zudem von großer Hitze aufgekocht wird. „Geht’s euch gut da draußen in der Sonne“, fragt etwa Stefanie Mannaerts, Sängerin und Schlagzeugerin der belgischen Band Brutus. Ihr progressiver Rock wummert belebend in der Brust. Und ihr starker Gesang fliegt sehnsuchtsvoll über das flimmernde Feld. Abkühlung verschafft eine Schneekanone, die einen feinen Regen über die verschwitzte Meute verteilt. Wie an den vielen Wasserstellen ohnehin eine Kultur des permanenten Befeuchtens zu erleben ist. Von außen und innen. Hüte und Kappen, Haare und Körper werden da durchnässt. Becher, Faltflaschen und Münder befüllt. In Kombination mit Staub und Sonnencreme ergibt das ein paniert verschmiertes Sommerglück. Als sollten sämtliche Hygienekonzepte ausgetrieben werden.
Die mehr als 80 Bands des Wochenendes, sie spielen für die Schmuddelkinder. Und für die nicht minder angestaubten Erwachsenen. Denn was positiv auffällt: Das Hurricane ist und bleibt ein Mehrgenerationen-Festival. Die Älteren tragen Shirts von David Bowie und Kettcar zur Schau, die Jüngeren genießen lässig in bunten Hemden oder einfach in BHs die vibrierende Leichtigkeit an Livemusik.
Zwischen Frauen-Rap auf Deutsch und einer norwegischen Nachtelfe
Während mit Bad Religion gerade noch mehr als vier Jahrzehnte Punkgeschichte auf der Bühne standen, liefert Hip-Hopperin Juju einen bassgewittrigen Abriss für die Generation Deutschrap. Für ihren Song „Intro“ holt die Berlinerin eine junge Frau auf die Bühne, um mit ihr zu rappen. „Wird sie rasieren?“, fragt Juju die tosende Menge. Und ob sie rasiert. Sprich: Absolut lässig präsentiert sie Zeilen wie: „Man wird nicht sagen, das ist Frauen-Rap auf Deutsch / Man wird sagen, dieses Album hat zerstört“. Bei Juju gehen explizite Texte eloquent mit Ermutigung einher. Das Publikum feiert diese Haltung ebenso wie die wesentlich ätherischer daherkommenden Bekundungen der Sängerin Aurora. Wie eine Nachtelfe tanzt die Norwegerin vor einer Mondprojektion, ruft zu Respekt auf und wird frenetisch bejubelt für mitreißende Elektronummern wie „A Temporary High“.
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Idles aus Bristol zeigt sich: Die alten Festival-Rituale funktionieren noch. Etwa die Ansage, dass sich die Menge wie das Meer bei Moses zu teilen habe – nur um dann krachend wieder ineinanderzupurzeln.
Es macht den Anschein, als werde die Nähe zueinander noch ein wenig mehr zelebriert als früher. Eine Braut in (nicht mehr ganz so) Weiß versprüht ihr Liebeskarma, während ein Mann in Mönchskutte den entsprechenden Segen erteilen könnte. Sehr schön auch der Typ, der sich einfach einen großen Pappkarton mit zwei Guckfenstern über den Kopf gezogen hat. Sonnenschutz und Social Distancing in einem.
Hurricane-Festival: Bei Deichkind kommt das Gelände an die Auslastungsgrenze
Oder schlicht eine improvisierte Requisite, um den Headliner Deichkind mit seinen Dreieckshüten zu imitieren. Das Hamburger Anarcho-Kollektiv beginnt seine Show hübsch dialektisch mit „Keine Party“. Und als Philipp Grütering bei „Richtig gutes Zeug“ mit seinem Riesenrucksack auf die Bühne schleicht, werden bei vielen Assoziationen zur Festival-Anreise geweckt. Der Künstler lässt den Gag nicht liegen und fragt: „Hat jemand noch ’n paar Heringe für mein Zelt?“
Beim Auftritt von Deichkind zeigt sich allerdings auch, dass das Hurricane an seine Auslastungsgrenze gelangt ist. Für etwa zehn Minuten muss das Konzert unterbrochen werden, da das Gedränge zwischen den beiden Hauptbühnen zu heftig geworden ist. Da geht die auf Bürostühle geklebte Anti-Putin-Botschaft fast unter. Im Anschluss persiflieren Deichkind dann aber mit „Bude Voll People“ direkt noch einmal mit Wumms den Festival-Spirit: „Die Raver, sie blazen und shaken die Dixi-Toiletten im Takt / Die Punker, sie tanken und schwanken und fallen direkt in den Matsch“. Oder, wie 2022, in den Staub.