Hamburg/Krakau. Klassik-Enfant-Terrible Nigel Kennedy über seine Autobiografie, das Brechen von Konventionen – und seine Liebe zur Laeiszhalle.
Nigel Kennedy sitzt zwar weit entfernt von Hamburg in seinem Wohnort Krakau vor dem Zoom-Bildschirm, trotzdem hat auch ein Ferninterview mit dem englischen Geiger etwas von einem Gespräch in einen Pub beim fünften Pint: Er ist laut, lacht viel und flucht wie ein Bierkutscher. So ist es standesgemäß für einen Fan des Premier-League-Clubs Aston Villa. Aber dazu ist der 1956 geborene Sohn Brightons, der in Birmingham aufwuchs, auch noch einer der bekanntesten Geigenvirtuosen der Gegenwart.
Schon als Kind erhielt er ein Stipendium an der Schule des legendären Yehudi Menuhin in London, und bis heute spielte er zusammen mit ungezählten namhaften klassischen Ensembles, Jazz-Ikonen sowie Stars aus der Popwelt von Paul McCartney bis Kate Bush. Sein Ruf, auf Konventionen zu pfeifen, verschaffte ihm das Markensignet als „Klassik-Punk“, und das untermauert er jetzt mit seiner Autobiografie „Mein rebellisches Leben“. Auf 528 Seiten improvisiert Kennedy ein Sammelsurium aus Begegnungen, Erinnerungen und Erfahrungen. Nahezu sämtliche „fucks“ haben wir übrigens aus der Abschrift gestrichen, schlicht aus Platzgründen.
Hamburger Abendblatt: Wenn Sie keine Karriere als Musiker begonnen hätten, wären Ihnen ja noch andere Leidenschaften geblieben: Der Aston Villa Football Club und das Boxen. Wären Sie bei der Villa Youth, den Steamers oder einer ähnlichen Hooligan-Truppe gelandet, um sich mit den Rivalen von Birmingham City zu kloppen?
Nigel Kennedy: Oh, das ist durchaus vorgekommen. Das einzig Gute, was Birmingham City übrigens hat, sind die Zulu Warriors, die erste multiethnische Hooliganvereinigung in einer Szene voller weißer Nazis und anderer Spinner. Das waren wilde, primitive Zeiten damals, nicht diese Hochglanz-Schnittchen-Fußballevents von heute.
Mit Schnittchen-Events hatten Sie es ja noch nie so. Wenn man Ihr Buch liest, gewinnt man den Eindruck, dass Ihr Image als Klassik-Punk kein übertriebener Marketing-Gag war. Sie dürften gegen mehr Konventionen und Normen verstoßen haben als die komplette London-1977-Punkszene.
Nigel Kennedy: Die Leute haben mich ,Punk‘ genannt, nicht ich. Dabei habe ich immer nur Musik geliebt und gespielt, die für alle zugänglich ist. Und wenn dem Konventionen und Strukturen im Weg standen, habe ich sie eingerissen. Um neue zu errichten.
Geschieht das aus spontanen Launen heraus, weil es in Ihrer Natur liegt, oder steht dahinter ein ausgeklügelter Masterplan?
Nigel Kennedy: Ich muss mich einfach wohlfühlen, egal in welchen Umgebungen ich mich bewege. Wenn ich mich mies fühle, zieh ich einfach mein Ding durch, aber unter tollen, aufgeschlossenen Menschen zu sein ist mir eindeutig lieber.
Ihr Buch befleißigt sich sehr der Gossensprache der englischen „Lad Culture“: Viele Schimpfwörter, drastische Flüche und despektierliche Kommentare. Das ist unterhaltsam und authentisch zu lesen, aber der Kontrast zu Ihrem Spiel, zum Beispiel Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, könnte kaum stärker sein. Zauber und Schönheit, Gegröle und Gejohle, Philharmonie und Aston-Villa-Fankurve. Das verwirrt durchaus.
Nigel Kennedy: Ich nehme meine Kunst verdammt noch mal ernst und arbeite hart dafür. An jedem Morgen stehe ich auf und übe, damit meine Konzerte es für das Publikum wert sind, besucht zu werden. Aber ich bin nicht der beknackte Herbert von Karajan oder eine dieser anderen Lichtgestalten, ich habe nun mal einen anderen Hintergrund. Aber ich kann durchaus auch ein richtiger Musiker sein, wenn ich mir Mühe gebe.
Ein bemerkenswertes Kapitel ist Ihre Zusammenarbeit mit Kate Bush. Nach vielen Seiten voller Schmähungen wechselt Ihr Ton in liebevolle, warmherzige und aufrichtige Bewunderung. Niedlich.
Nigel Kennedy: Sie ist eine wunderbare Künstlerin. Aber sie scheut auch sehr die Öffentlichkeit und spricht im Gegensatz zu Typen wie mir nicht gern über sich. Darauf habe ich Rücksicht genommen. Es hat jedenfalls Spaß gemacht, einfach mit ihr abzuhängen, was bemerkenswert ist, bei dem Erwartungsdruck, den die Öffentlichkeit, Medien und Plattenfirmen bei einem Genie wie ihr aufbauen.
Sie schreiben, dass Sie immer versuchen, zum Kern, zum Herz und zur Seele einer Komposition und dem Menschen, der sie schrieb, vorzudringen. Egal ob Klassik oder Rock. Ist diese Art, Musik zu begreifen, manchmal zu intim, zu unheimlich für Sie?
Nigel Kennedy: Es ist merkwürdig. Wenn es eine alte Komposition ist, fühlt es sich an wie eine Zeitreise. Ich kann spüren, wie Jimi Hendrix, Beethoven oder Bach mich berühren, es ist eine Zwiesprache durch Raum, Zeit und Emotionen. Und als Künstler, ich nenne mich jetzt einfach mal Künstler, öffne ich mein Herz und mache mich so sehr verletzlich. Aber anders geht es meiner Meinung nach auch nicht. Ohne Herz spielst du nur wie ein Roboter, und davon gibt es wahrlich genug.
Sie zählen zu den Pionieren des Crossover-Genres, aber Sie hassen den Begriff, nicht wahr?
Nigel Kennedy: Willst du mich verarschen, Kumpel? Bei Crossover muss ich an einen verdammten Vollidioten denken, der ohne Qualifikation in einem Genre auch noch ein weiteres Genre verhunzt. Komisch, dass es das nicht im Schauspielfach gibt. Ein Schauspieler kann problemlos von Comedy zu Tschechow zum verdammten Shakespeare wechseln, und niemanden kümmert es. Aber in der Musik bewegen wir uns auf festen Bahnen, bis irgendein Trottel von der Plattenfirma kommt und sagt: „Hach, es wäre so schön, wenn du das verdammte ,Ferry Cross The Mersey‘ spielen könntest“. Und irgendein furchtbarer klassischer Geiger, Trompeter oder Cellist wird es tun. Aber als Hybrid-Musik, zusammengeschüttet aus Reagenzgläsern. Grauenhaft. Ein Kommerz-Gimmick.
Sie haben ein großes Herz für Deutschland. Das ist schon ungewöhnlich für einen englischen Fußball-Enthusiasten.
Nigel Kennedy: Die Menschen lieben Musik in Deutschland, und sie haben großen Respekt vor anderen Menschen. Es gibt natürlich immer Ausnahmen, aber in anderen Ländern gibt es mehr Ausnahmen. England versteht sich als Behüter von Kultur, aber mit dem Brexshit-Phänomen ist dort einiges den Bach runtergegangen. Man schließt sich aus, aber das geht nicht in der Welt der Musik und auch im Fußball, in der man so viel gemeinsam erlebt und teilt. Auch die Verzweiflung. Wenn man die Verzweiflung teilt, löst sich das Ego auf. Deshalb gehören Stadien auch mitten in die Stadt, in die Gemeinde und nicht irgendwo an den Stadtrand. So wie das Millerntor-Stadion (er steht auf und zieht ein St.-Pauli-Shirt an). Ich muss da endlich hin, ich will diesen Club und seine einzigartigen Fans endlich hautnah erleben!
Sie haben noch einiges aufzuholen hier: Bislang hatten Sie erst einen Auftritt in der Elbphilharmonie vor fünf Jahren. Ist Ihnen dieser Konzertsaal zu … schickimicki?
Nigel Kennedy: Wahrscheinlich säge ich jetzt auf dem Ast, auf dem ich sitze, aber ich bevorzuge die Laeiszhalle, ich liebe diesen verdammten Saal. Die Akustik ist toll, und die Atmosphäre sehr familiär. In der Elbphilharmonie könnte ich mir etwas von meinem elektronischen Scheiß vorstellen. Aber die Laeiszhalle … mit der akustischen Geige … Mann, es ist so großartig.
Hamburg ist im klassischen Sinne die Stadt von Johannes Brahms. Sie aber beginnen Ihre tägliche Routine mit Bach. Was stimmt nicht mit Ihnen?
Nigel Kennedy: Ich könnte auch mit Brahms den Tag beginnen, oder Liszt … vergiss es, war ein Scherz. Sorry, Bach ist mein Mann.