Hamburg. Über dem Harburger Bahnhof setzen sich sechs Künstler mit dem Thema Reise auseinander – als Sehnsuchtsort oder mit Ungewissheit.

Es ist fast ein bisschen erschreckend, wie zeitgemäß sich die aktuelle Ausstellung im Kunstverein Harburger Bahnhof anfühlt. Die ersten Schritte vom Eingangsbereich in die große ehemalige Wartehalle führen den Besucher an Linda Nadjis gewichtigen Plastiken vorbei: Gepäckstücke aus Beton und Stahl. So elegant sie auch aus der Ferne erschienen, man möchte sie nicht mit sich herumschleppen müssen.

Unweigerlich fühlt man sich an Bilder aus den Nachrichten erinnert. Wie Beton müssen sich auch die wenigen Gepäckstücke ziehen lassen, mit denen vertriebene Ukrainerinnen und Ukrainer seit Tagen auf der Reise sind. Ihr Unterwegssein hat nichts mit Mobilität zu tun, eher mit Stillstand und bleierner Schwere. Ihre Herkunft haftet ihnen als Einwanderer an, macht ihnen das Ankommen schwer. Gleichzeitig sind die typischen Baumaterialien Beton und Stahl möglicherweise auch ein Hinweis auf den Wunsch nach neuer Sesshaftigkeit.

Hamburg: Ausstellung im Kunstverein Harburger Bahnhof

Reisen ist, wie der Titel „I Offer You a Journey Without Direction, Uncertainty and No Sweet Conclusion” erkennen lässt, zentrales Thema bei der Schau, die noch bis zum 15. Mai zu sehen ist. Um Reisen im Sinne von Urlaub oder Entdeckung geht es hier allerdings nicht. Nadji, Hans Diernberger, Deniz Eroglu, Will Saunders, Adrian Williams und Helena Wittmann sind vielmehr der Mobilität als solcher oder der Illusion von Mobilität auf der Spur. Wittmann ist Hamburgerin, die anderen leben in Deutschland verteilt, Eroglu in Italien. Nadji wuchs im Iran auf. Als dort der Krieg ausbrach, war sie zufällig mit ihren Eltern in Deutschland und blieb.

„Es ist eine langsame Ausstellung geworden“, sagt Tobias Peper, Künstlerischer Leiter des Kunstvereins, schmunzelnd. Und das stimmt auch. Drei Filme laufen hier als kinoleinwandgroße Projektionen. Drei Stunden nehmen sie zusammen in Anspruch. Der Sound überlagert sich teilweise, löst eine angespannte Atmosphäre aus. Dabei kommt Reise in den Filmarbeiten auch als Sehnsuchtsort vor. Bei Hans Diernberger und Will Saunders etwa. Ihr Film ist auf einer Bahnreise zwischen Los Angeles und New York entstanden. Die Bilder überlagern sich, laufen in beide Richtungen über die Leinwand – eine Art transparente Projektionsfläche entsteht, während das Zuckeln auf der Bahnfahrt Nostalgie und Fernweh verbreitet. Im Hintergrund läuft für den Film komponierte Westernmusik. Ein Ankommen ist unmöglich.

Der ewige Kreislauf von Leben und Vergänglichkeit

Bei Deniz Eroglu drückt sich das Nicht-Ankommen-Können in Isolation aus, und bei Helena Wittmann löst gen Ende das Meer die Protagonistin mit seinen fließenden Bewegungen ab. In aller Rauheit erinnert es an den ewigen Kreislauf von Leben und Vergänglichkeit.

Die Idee zur Ausstellung kam Peper bereits zu Anfang der Corona-Zeit. „Wir müssen auf Sicht fahren“, habe man da oft vonseiten der Politik gehört, erinnert er sich. Doch obwohl die sechs beteiligten Künstler den Besuchern weder Ziel noch Auflösung anbieten, solle die Ausstellung keineswegs ins Desaströse leiten, sagt Peper, sondern wolle vielmehr als Einladung verstanden werden, Unsicherheit anzunehmen.

Halt geben am ehesten die Sofas von Adrian Williams. Die verschieden großen, farbigen und gemusterten Möbelstücke erinnern an Studentenbude oder Oma. Sie alle waren zu verschenken, weil sich die Lebensumstände ihrer Besitzer verändert hatten – und sie sollen nach Ausstellungsende gespendet werden. Williams hat sie also nur kurz von ihrem Weg geholt, damit der Ausstellungsbesucher Platz nehmen darf. Auf den Sofas thronende Pappschilder, die von einem Tramper stammen könnten, werden zum Sitznachbar: „When was the last time you ran your hands through my hair“. Momente des Innehaltens hat der Künstler in scheinbar flüchtige Worte gefasst.

„I Offer You a Journey Without Direction, Uncertainty and No Sweet Conclusion“ Reise als Moment der Ungewissheit, bis 15.5., Kunstverein Harburger Bahnhof, im Bahnhof über Gleis 3 und 4, Hannoversche Str. 85; bis 15.5.; Zeiten und Eintritt: www.kvhbf.de