Hamburg. Ulrich Blumenbach hat den 900-Seiten-Roman „Witz“ übersetzt. Er und Cohen kommen nach Hamburg.
„Erstens: Bangemachen gilt nicht. Zweitens: Erst mal nicht um den Plot kümmern.“ Mit diesen Empfehlungen des Übersetzers Ulrich Blumenbach käme man schon ziemlich weit bei der Lektüre von „Witz“. Der jetzt erst auf Deutsch erschienene, schon 2010 im Original veröffentlichte Roman ist eine echte Zumutung. Ziegelsteinschwer, die Geschichte kreist wild und weit um Ben Israelin. Nachdem Weihnachten 1999 Millionen von Juden – bis auf die männlichen Erstgeboren – sterben, wird Ben zu einer Art Showbiz-Messias. Oder so. Für derartige Brocken ist Blumenbach gefeierter Spezialist, nicht erst, seit er David Foster Wallaces „Unendlicher Spaß“ (1552 Seiten) jahrelang ins Deutsche übertrug. Am Diensteg sind Cohen und Blumenbach in Hamburg.
Fünf Jahre am Stück für „Witz“, beim „Unendlichen Spaß“ waren es sechs. Sie haben „Witz“ als „Schwerbuch“ bezeichnet. Nicht wegen des Gewichts. Was machte es so „schwer“?
Ulrich Blumenbach: Seine Endlossätze, sein ungeheurer Wortschatz, seine Musikalität, seine Wortspiele, sein historischer, religiöser und geistesgeschichtlicher Anspielungsreichtum.
Bei Foster Wallace gab es die 50-Seiten-Hürde, über die man als Leser unter großen Anstrengungen drüber musste und hinter der es, sehr relativ: einfacher wurde. Wie war es bei „Witz“?
Blumenbach: Bei „Witz“ liegt die Hürde bei gut 80 Seiten. Danach hat er, Wallace nicht unähnlich, immer wieder kleine und in sich abgeschlossene Episoden eingebaut, die lesbarer und oft sehr komisch sind.
Diesmal, anders als bei „Unendlicher Spaß“, lebte der Autor noch. Wie – und wie einfach – war diese Zusammenarbeit? Stört der Autor womöglich beim Ausdeuten?
Blumenbach: Im Gegenteil. Joshua ist extrem hilfreich. Klar, er hat meine Interpretationen einzelner Wörter und Sätze oft noch verkompliziert, weil er mich auf Aspekte hingewiesen hat, die mir entgangen waren, da er gut Deutsch spricht, hat er aber auch an konkreten Lösungen mitgebastelt.
Eigentlich hatten Sie es mit gleich drei Sprachen zu tun: Englisch, Jiddisch, Hebräisch. Wie kamen Sie damit klar?
Blumenbach: Da habe ich mich im Lauf der Jahre einarbeiten müssen, was anfangs sehr mühsam war. Ich weiß noch, dass ich ewig lange nicht verstanden habe, wie und in welcher Bedeutung Joshua das einfache englische Verb „get“ als Substantiv verwenden kann, bis ich endlich geschnallt habe, dass es gar kein englischer, sondern ein jiddischer Ausdruck ist und einen Scheidungsbrief bezeichnet.
In einer US-Kritik hieß es: „Cohen’s Sätze regnen weiter und weiter, mit einem Satzteil nach dem anderen, der sich über die Seite hinabschlängelt. Ein einsamer Punkt gönnt einem eine Pause und der nächste Satz attackiert. Wenn man „Witz“ mit irgendetwas vergleichen sollte, dann mit den Bildern von Hieronymus Bosch.”
Blumenbach: Das ist richtig, und auch als Übersetzer, der zwangsläufig langsamer und konzentrierter liest als Ottilie Normalverbraucherin, hatte ich oft Schwierigkeiten, den reinen Inhalt solcher Satzmäander zu begreifen. Der Vergleich mit Bosch gefällt mir: Dessen Monumentalgemälde sind visuelle und Joshuas Sätze sind sprachliche Wimmelbilder, in denen weit mehr los ist, als man auf den ersten Blick sieht.
Sind Sie noch Übersetzer oder schon Mit-Autor? Nach Wortschöpfungen wie „Nabelschnurgeradeausweglosigkeit“, „Zigeuneradinnen“, „Schrumpelstilzchen“ oder „Zungenzores“ könnte man das vermuten.
Blumenbach: Grundsätzlich sind doch alle Übersetzer und Übersetzerinnen Mit-Autoren und -Autorinnen. Wir sind Kunsthandwerker, insofern es für unsere Werke Vorlagen gibt, aber wenn wir die Originale in unseren Muttersprachen nacherschaffen, sind das doch ebenfalls Schöpfungen (die deswegen ja auch genauso vom Copyright erfasst werden und Urheberrechtsschutz genießen).
Cohen ist für Sie ein „Trümmergrammatiker“, sagten Sie.
Blumenbach: Die Charakterisierung seiner Sprachbehandlung ist analytisch oder geschichtsphilosophisch und keineswegs abschätzig gemeint. Wenn im „Tikkun“ – dem beglückenden Endzeitmythos der jüdischen Mystik – die nach dem sogenannten Bruch der Gefäße über die ganze Schöpfung verstreuten Lichtsplitter wieder zusammengefügt werden, dann denkt Joshua gewissermaßen antikabbalistisch Adornos Auschwitzverdikt und Literatursprache zusammen: Für ihn kann es keine „heilen“ Sätze mehr geben, weil sechs Millionen Juden nicht wieder lebendig gemacht werden können. Die Schädelstätten werden in seinem Buch zum Schöpfungstadel.
Sie mussten sich nicht nur durch die Grammatik graben, sondern auch durch abgelegenstes Fachvokabular, unter anderem zu Edelsteinschleifen, dem Aufbau von Wiederkäuermägen, der Falknersprache. Wie hoch war Ihr Durchschnittstempo pro Tag?
Blumenbach: Wenn ich vier Seiten in einer Rohfassung dastehen hatte, war ich sehr zufrieden.
Eine besonders cohen-ige Stelle: „Zeitig gezeugt vom gezeugten Zeuger, dessen zeugliches Zeugen zig Zeiger zeugte und der zig Zeigerer zeugsam zieh, deren Zeugbarkeit von anderen Zeugerern zügig gezeugt ward zuzüglich anderer Zeugerer, deren Zeugung zeugnerisch den zieh, zog, zagte, der da den zeugte, vom Zeugen des Zeugers zeugsam zagend…“ Wann haben Sie das erste Mal bereut, diesen Auftrag angenommen zu haben?
Blumenbach: Wahrscheinlich bei der Widmung. Was soll ich denn auf Deutsch hinschreiben, wenn der Autor eines Postholocaustromans aus „Dedicated“ „Deadicated“ macht? Es wurde dann „Gewidmord“.
Das Honorar damals bei Foster Wallace betrug angeblich 52.000 Euro. Und jetzt, bei Cohen? Ist das noch – zu niedriges – Honorar oder auch Schmerzensgeld?
Blumenbach: Soll ich hier wirklich über deutsche Verlage schimpfen, die partout nicht einsehen wollen, dass Literaturübersetzungen ein Kulturgut sind, das seinen Preis hat, und dass es ganz einfach eine Schande ist, wenn man mit Honoraren abspeist, die auf Stunden umgerechnet oft genug unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegen? Belassen wir es doch dabei, dass ich für die Übersetzung von „Witz“ glücklicherweise das hochdotierte Zuger Übersetzerstipendium sowie einen sehr hohen Unterstützungsbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia erhalten habe, die sich zusammen auf knapp das Doppelte des Verlagshonorars beliefen. Schöffling gehört aber insofern zu den „guten“ Verlagen, als ich dort eine anständige Erfolgsbeteiligung bekomme.
Worin liegt der Reiz für einen Übersetzer, der ja auch gelesen werden will und dessen Kunst eigenständig wahrgenommen werden soll, sich immer wieder Bücher vorzunehmen, die „nur“ Spitzenpositionen in der – Ihre Formulierung – „Bibliothek der ungelesenen Werke“ einnehmen?
Blumenbach: Darauf habe ich bis heute keine Antwort gefunden, die mich selber wirklich überzeugen würde. Ein profanes Motiv könnte darin liegen, dass es mich einfach reizt, sprachlich Neues auszuprobieren, noch platter gesagt: deutsche Wörter hinzuschreiben, die ich in knapp 30 Berufsjahren noch nie geschrieben habe, und bei Büchern wie dem „Unendlichen Spaß“ und „Witz“ bekomme ich dazu weit häufiger die Gelegenheit als bei konventioneller Erzählliteratur.
Ich geb’s offen zu, man soll ja nicht lügen: „Witz“ habe ich noch nicht gelesen. Warum sollte ich?
Blumenbach: Ich weiß nicht, was Sie in Literatur suchen, ich kann Ihnen nur sagen, was Sie in „Witz“ finden und was dieses Buch für mich zu einer der beglückendsten Leseerfahrungen meines Lebens macht: rauschhaft aufgeladene Sprache von einer Musikalität, einem Rhythmus und einer Sinnlichkeit, die die Seiten zum Glühen bringt.
Was liest ein Übersetzer wie Sie privat? Oder ist das wie bei Köchen, die zuhause nicht wissen wollen, wie man den Herd anstellt?
Blumenbach: Och, ich bin ein ziemlicher Kraut-und-Rüben-Leser. Natürlich lese ich avancierte Literatur (ganz oben auf meiner Liste: Mark Z. Danielewskis von Nora Matocza und Gerhard Falkner übersetztes „Only Revolutions“ sowie Suzanne Jill Levines englische Übersetzung von Guillermo Cabrera Infantes leider nie ins Deutsche übersetztem „La Habana para un Infante Difunto“). Aber das fällt teilweise unter Werkspionage, weil mich interessiert, wie Kolleginnen und Kollegen mit komplexen Texten umgehen. Ansonsten interessiert mich angelsächsische und deutsche Gegenwartsliteratur, weil ich wissen möchte, wohin sich die Sprachen der beiden Literaturen entwickeln, aus denen und in die ich übersetze. Im Moment stehen auf dem Wunschzettel Jasmina Kuhnke, Sharon Dodua Otoo, Jackie Thomae, Olivia Wenzel und Hengameh Yaghoobifarah, weil ich wissen möchte, wie sie den Rassismus der Bundesrepublik perspektivieren und welche literarischen Ausdrucksmittel sie dafür finden. Drittens fliehe ich vor den Unbilden des Lebens zunehmend zu Klassikern – oder aber ins Weltall, denn viertens habe ich meine guilty pleasures und lese gern Science-Fiction-Heftchen.
Was liegt jetzt auf Ihrem Schreibtisch? Tatsächlich James Joyce’ „Finnegans Wake“?
Blumenbach: Ja, das war kein verfrühter Aprilscherz.
Schon eine Verabredung mit Cohen fürs nächste Buch, „Die Netanjahus“?
Blumenbach: Nein: Joshua ist ein so produktiver Autor, dass wir ihn uns teilen. Robin Detje hat das „Book of Numbers“ übersetzt, „The Netanyahus“ macht wie schon „Moving Kings“ Ihr Hamburger Landsmann Ingo Herzke.
Lesung: 15. März, 19.30 Uhr. Literaturhaus, mit Joshua Cohen. Moderation und dt. Lesung: Ulrich Blumenbach. Karten: 10 / 14 Euro (Streamingticket: 5 Euro). www.literaturhaus-hamburg.de.