Eigentlich war eine familiäre Spurensuche geplant, doch dann wurde der Pandemie-Dokumentarfilm „Moleküle der Erinnerung“ daraus.

Venedig wäre so schön. Wenn nur die vielen Menschen nicht wären. Das sagen die Touristen, obwohl sie ja das Problem sind. Das sagen aber auch die Venezianer, obwohl sie vom Tourismus leben. Wie ein Venedig ohne Menschen aussieht, zeigt der Dokumentarfilm „Moleküle der Erinnerung. Venedig, wie es keiner kennt“: ein leerer Markusplatz ohne eine Menschenseele, verwaiste Bartische auf Giudecca und ein ruhiger Canal Grande ohne Boote, Gondeln oder auch nur Wellen. Nein, so leer ist Venedig auch nicht schön.

Der italienische Dokumentarfilmer An­drea Segre reiste Ende Ende Februar 2020 nach Venedig, um auf Spurensuche nach seinem verstorbenen Vater zu gehen. Der wuchs in der Lagunenstadt auf, machte als junger Mann viele Fotos und Super-8-Aufnahmen von der Stadt. Bis zu seiner Hochzeit, dann widmete sich der Chemiker nur noch seinem Beruf. Mit seinem Sohn sprach er selten. Nach dessen Tod reiste Segre also in die Stadt, mit der er immer fremdelte. Doch die Einwohner, die er traf, redeten nur von der verheerenden Flut drei Monate zuvor, die deutlich machte, wie bedroht die Stadt auf Pfahlbauten durch den Klimawandel ist.

Kino: In „Moleküle der Erinnerung“ ist Venedig wie leergefegt

Und dann steckte der Filmemacher plötzlich fest. Wegen der Pandemie ging gar nichts mehr. Alle Kirchen, Schulen und Cafés waren dicht. Nur die Angst ging um, weil das nahe Bergamo Europas Hotspot war. Die Touristen fehlten, und auf einmal war die Stadt wieder so leer wie in den alten Aufnahmen des Vaters. Instinktiv erkannte Segre den historischen Moment.

Und so drehte er unglaubliche Bilder von einem melancholisch verzauberten Venedig. Was als ganz persönlicher Film gedacht war, wurde plötzlich zum Sinnbild einer Erfahrung, die im ersten Lockdown die ganze Welt machen musste: die Leere der Städte, das Fest­sitzen, das Aus für das gesellschaftliche Leben.

Und doch, welch Ironie, war es die Lebensaufgabe des Vaters, Moleküle zu erforschen. Und nun überträgt ein Virus mit zackenförmigen Molekülen Corona. Da schlossen sich Kreise, die nie beabsichtigt waren. Und so wurde „Moleküle der Erinnerung“ ein Zeit-Bild und ein Dokument über einen einzigartigen Ausnahmezustand, der auch als Mahnung gilt, dass es so weit – hoffentlich – nie wieder kommt.

„Moleküle der Erinnerung“, Italien 2020, 68 Minuten, läuft im Zeise (OmU)