Hamburg. Stimmt freudig in den Jubel der Engel ein: Es gibt wieder Lieder zum Fest von Norah Jones, Gary Barlow, den Broilers und anderen.
Was bei nicht wenigen Paaren „Dieses Jahr schenken wir uns nichts“ ist, ist in der Kulturredaktion des Abendblatts der Satz „Dieses Mal stellen wir mal keine Weihnachtsalben vor“ – Quatsch! Sobald die ersten Spekulatius-Stapel in den Supermärkten aufgeschichtet werden und die Radiosender den Schlüssel für den „Last Christmas“-Tresor aus dem Tresor für den Schlüssel des „Last Christmas“-Tresors holen, geht es auch bei uns los: Jedes Album und jeder Song mit auch nur einem Hauch von „Winter Wonderland“ wird aufgesogen. CDs und Streaming-Links zum Probehören werden im Kollegium verteilt und auf Lebkuchenherz und Nieren geprüft.
Am Ende des Tages sind zur Heiligen Nacht auch in diesem Jahr wieder deutlich mehr musikalische Neuheiten im Angebot, als sich an dieser Stelle vorstellen lassen. Weshalb Roland Kaisers „Weihnachtszeit“ ebenso fehlt wie „Patrice presents Rocksteady Christmas“ oder Mariah Careys neue Liebesschnulze „Fall In Love At Christmas“. Aber unsere Auswahl, die von Pop und Punk bis zu Klassik und Jazz reicht, dürfte trotzdem manchen auf eine Geschenkidee bringen – oder zumindest die Playlist zum Fest füllen. Auf eine hörenswerte Vorweihnachtszeit!
Norah Jones
Der Romantisierung der Weihnachtstage sind bekanntlich keine Grenzen gesetzt. Strahlende Kinderaugen, glückselige Paare, die sich unterm Mistelzweig in die kaschmirpulloverten Arme schließen, drinnen flackern die Kerzen, draußen rieselt der Schnee. Alles ein großes Hach. Und sollte jemandem dazu noch der passende Wohlfühl-Soundtrack fehlen: Hier ist er.
Mit „I Dream Of Christmas“ (Blue Note) liefert Norah Jones ein weitgehend dahingehauchtes Album ab, das die Sehnsucht nach größtmöglicher Harmonie in ein schnuckeliges Pop-Country-Jazz-Festgewand kleidet. Das ist gelegentlich hübsch („A Holiday With You“), oft aber vor allem eine perfekte Einschlafhilfe („Winter Wonderland“).
Till Brönner
Es ist eine große Kunst, ein Weihnachtsalbum aufzunehmen, das man auch im Frühjahr, Sommer oder Herbst anhören mag – weil es nämlich gar nicht streng-weihnachtlich klingt. Die legendäre Zusammenstellung „Yule Struttin’ – A Blue Note Christmas“ mit Chet Baker, Count Basie und Dexter Gordon ist ein gutes Beispiel. Und jetzt auch „Christmas“ (Sony Music) von Till Brönner.
Sein melancholisch-eleganter Trompetenton trifft auf das Spiel von Pianist Frank Chastenier und Bassist Christian von Kaphengst, das Ergebnis: ein kammermusikalisches, weitgehend von überflüssigem Pathos befreites Jazztrio-Album, auf dem selbst ein „O Tannenbaum“ ganz anders klingt als gewohnt. Sehr erfrischend!
Broilers
Es gibt Weihnachtsalben, die packt man nicht mit Samthandschuhen aus, sondern mit den doppellagigen Plastikpranken für künstliche Rinderbefruchtungen. Bei „Santa Claus“ (Skull & Palms) von den Broilers aus Düsseldorf rechnet man bei einer Titelliste mit „Feliz Navidad“, „Driving Home For Christmas“ und „Santa Claus Is Comin‘ To Town” mit zappeligem Ska-Getröte und eher besoffenem als besinnlichem Gegröle, das brutaler an den Nerven nagt als Omis dritte Zähne an zu krossen Plätzchen.
Aber so schlimm ist es nicht, irgendwie hat „Santa Claus“ seinen schrägen, sympathischen Charme. Trotzdem sollten auch Broilers-Fans lieber den Album-Klassiker „Santa Muerte“ aus dem Jahr 2011 auflegen und für die Konzerte der Band sparen: Denn da brennt wirklich der Baum.
Christiane Karg
24 Titel auf einer Weihnachts-CD? Punktlandung unterm Baum, quasi. War aber keine Absicht, sondern habe sich so ergeben, sagt die Sopranistin Christiane Karg über „Licht der Welt (A Christmas Promenade)“ (harmonia mundi).
Anders als der eine oder andere Tenor, der seinen Kassenschlager vom letzten Jahr – mit einigen weiteren Titeln gestreckt – einfach noch mal zum Abkassieren herausbringt, hat sich Karg große Mühe gemacht, lohnende Klassik-Raritäten zu finden: Weihnachtslieder von Mendelssohn und Schumann und sogar von Grieg, Sibelius, Rossini, Ravel und Richard Strauss. Schon deswegen ist diese Platte hörenswert. Und gesungen wird das alles auch noch sehr schön.
Brian Fallon
Viele verbinden mit Weihnachtsliedern besondere Kindheitserinnerungen. Brian Fallon, bekannt durch seine Rockband The Gaslight Anthem, hat eine innige Beziehung zu jenen Songs, die seine Mutter früher in der Kirche gesungen und zuhause auf der Gitarre gespielt hat. Nun hat er für sein Album „Night Divine“ (Lesser Known Records) zehn festliche Nummern mit rauem Schmelz interpretiert.
Seine Versionen von „Amazing Grace“ oder „Silent Night“ klingen wie die Begleitmusik für alle jene, die gerne alleine durch den Schnee spazieren, um dann in einer Hütte mit Kaminfeuer einzukehren: Sachte instrumentierte Stücke an berührend brüchigem Gesang, der intim, aber nie kitschig klingt.
Steve Perry
Dass Weihnachten das Fest der Einkehr sein sollte, das betont Steve Perry. Für sein Album „The Season“ (Universal)‟ hat er Klassiker des Genres mit unaufdringlichem Sentiment intoniert. Mal jazzig wie bei „I’ll Be Home For Christmas“. Mal soulig wie bei „Santa Claus Is Coming To Town“.
„Eines der Dinge, die ich an diesen traditionellen Aufnahmen am meisten liebe, ist, dass sie nicht wie ein Rocksong auf einen zustürmen – sie sitzen einfach ruhig da und laden einen ein“, sagt Perry über die Songs, die in seinem Homestudio entstanden. Warum er den geschmackvollen Arrangements allerdings ein derart überfrachtetes Albumcover verpasst hat, fällt dann wohl in die Rubrik Weihnachtswunder.
Unheilig
2016 verließ Sänger Der Graf sein Düsterpop-Projekt Unheilig und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Neuauflagen und Sammelalben erscheinen trotzdem in steter Folge, zuletzt die Best-of-Platte „Lichterland“ (Vertigo). Die Deluxe-Edition bietet als Bonus das Weihnachtsalbum „Winterlichter“ mit 14 Synthie-Pop- und Dark-Rock-Liedern, zwölf davon bislang unveröffentlicht.
Wer also eine Ergänzung für das Unheilig-Album „Frohes Fest“ sucht: „Es kommt ein Schiff geladen“ mit „Leise rieselt der Schnee“ und „Macht hoch die Tür“. Dazu schwarze Christbaumkugeln, Lederlametta und ein Klaps mit der Rute, schon kann der unheilige Abend festlich begangen werden.
Lucinda Williams
Mit ihrer Reihe „Lu’s Jukebox“‟ unterstützt Rock- und Country-Ikone Lucinda Williams jene Orte, die unter der Pandemie besonders zu leiden haben: Musikclubs. Neben Coversongs von den Stones bis zu Dylan hat die US-Musikerin mit „Have Yourself A Rockin’ Little Christmas“ (Highway 20 Records) auch eine Weihnachtsplatte eingespielt.
Und bei den bluesgetränkten Nummern wird schnell klar: Lucinda Williams besingt keine heile Welt, sondern scheint sich schnurstracks an den Tresen zu begeben. Buck Owens „Blue Christmas Lights“ weist da ebenso den Weg wie Albert Kings „Santa Claus Wants Some Lovin’“. Und auch den Ramones-Klassiker „Merry Christmas (I Don’t Want To Fight Tonight)“ interpretiert sie wunderbar dreckig.
Gary Barlow
Was Robbie Williams konnte, kann Take-That-Kollege Gary Barlow auch: „The Dream Of Christmas“ (Universal) ist sein erstes Weihnachtsalbum, und damit es auch jeder merkt, tragen neun der 16 Titel der Deluxe-Edition „Christmas“ im Titel. Mit dabei sind neben Klassikern wie „Sleigh Ride“ und dem mit den Puppini Sisters eingesungenen „Winter Wonderland“ auch modernere Coverversionen wie „Wonderful Christmastime“ von Paul McCartney.
Der Höhepunkt seines Albums ist aber die Eigenkomposition „The Dream Of Christmas“. Die Ballade packt einen schön warm ein wie der hässliche Weihnachtspullover, den Barlow in „Christmas Sweater“ besingt – und der im Fanshop erhältlich ist.
Ella Fitzgerald
Zugegeben, die KlassikerZusammenstellung „Ella Wishes You A Swinging Christmas“ (Verve) ist schon mehr als 60 Jahre alt. Aber: Jetzt ist das gesuchte Stück wieder auf Vinyl zu haben, und zwar in der High-End-Reihe „Acoustic Sounds“, also audiophil als Transfer von den analogen Masterbändern.
Da klingt jeder Bläsersatz, jeder Basslauf fantastisch transparent – und über die Stimme von Ella Fitzgerald, die hier locker-entspannt swingt, muss man eh kein Wort verlieren. Dieses Album ist schlicht eine Gute-Laune-Injektion – aus längst vergangenen Zeiten, aber eindeutig ohne Verfallsdatum.