Hamburg. Steven Spielbergs Neuversion der “West Side Story“ lässt den alten Klassiker vergessen. Sie ist Hommage und Dekonstruktion zugleich.

Am Anfang ist die Abrissbirne. Lange schweift die Kamera über eine riesige Schutthalde. Hier wurde ein Haus nach dem anderen zerlegt. Überall nur Steine, Schutt und Bauzäune. Doch dann tut sich eine Klappe im Boden auf, und ein grinsender junger Mann hüpft wie ein Springteufel heraus. Einer der Jets, die dieses längst verlorene Areal als ihr Terrain verteidigen. Die Abrissbirne ist Programm. Denn Steven Spielbergs Neuverfilmung der „West Side Story“ ist Hommage und Dekonstruktion zugleich.

Eine Hommage nicht nur an eines der erfolgreichsten Musicals mit der berühmten Musik von Leonard Bernstein, sondern auch an die Erstverfilmung vor ziemlich genau 60 Jahren. Aber auch Dekonstruktion, weil hier kaum ein Stein auf dem anderen bleibt und alles neu interpretiert wird. Die Neuversion spielt nicht, wie man hätte erwarten können, im Heute, um sich von der Erstverfilmung abzusetzen, sondern zur selben Zeit, Ende der 1950er-Jahre. 

Romeo und Julia: Spielberg legt West Side Story neu auf

Erzählt aber auch davon, wie die alte Upper West Side von New York damals wegplaniert wurde, um dem heutigen Lincoln Center zu weichen. Immer wieder sehen wir im Film Häuser, die längst verlassen und verfallen sind, und dazwischen klaffende Lücken, wo die Abrissbirne schon ihr Werk getan hat.

Aber trotz dieses historischen Zeitraums haben wir sofort einen aktuellen Bezug, haben sogar ein Wort für diesen Eingriff ins Stadtgefüge, das es damals noch nicht gab: Gentrifizierung. Die Neuversion von Shakespeares „Romeo und Julia“ handelt jetzt nicht bloß von einer Rivalität zweier Straßengangs in New York, die der weißen, angelsächsischen Jets und der puerto-ricanischen Sharks, die der Kinder alteingesessener und neu hinzugekommener Einwanderer.

Das legendäre Original gewann zehn Oscars

Nein, beide kämpfen um das letzte Territorium, das sie noch haben, ein Stadtteil, der bald verschwinden und einem reicheren Komplex weichen wird, wo dann, wie ein Polizist zynisch prophezeit, puerto-ricanische Pförtner den weißen Straßenjungs sagen werden, dass sie hier nichts mehr verloren haben. Nur eine kleine Zuspitzung, und schon wird die alte, sattsam bekannte „West ­Side Story“ radikal neu und modern.

Dabei schien eine Neuverfilmung erst mal kühn, ja anmaßend. Remakes sind in der Regel nicht besser als das Original. Zumal bei der Erstverfilmung von Robert Wise, nur vier Jahre nach der Uraufführung des Musicals, auch noch Jerome Robbins, der Choreograf des Bühnen-Hits, Co-Regie führte. Und deren „West Side Story“ ging immerhin mit zehn Oscars in die Annalen ein, nur drei Filme, „Ben Hur“, „Herr der Ringe“ und „Titanic“, bekamen noch einen mehr. Steven Spielberg ist zwar das ewige Wunderkind von Hollywood, aber noch nie in seiner langen Laufbahn hat der Mann, der am 18. Dezember seinen 75. Geburtstag feiert, ein Musical inszeniert. Es hätte ein Debakel werden können.

Spielbergs Neuauflage setzt auf starke Neuentdeckungen

Andererseits hat der alte Film inzwischen Patina angesetzt. Unvergessen die grandiosen Anfangsbilder der echten Straßen von New York. Doch der Rest des Films wurde ausschließlich im Studio gedreht, das sieht man auch, man kann die Kulissen förmlich riechen. Und dann wurden zwar alle Nebenrollen mit tanzwütigen, stimmkräftigen Musicaldarstellern besetzt, aber ausgerechnet das zentrale Liebespaar Maria und Tony mit zwei Filmstars, Natalie Wood und Richard Bey­mer, die eher steif dazwischenstanden und nur Playback mit den Stimmen anderer sangen. Zudem: Eine braun geschminkte Natalie Wood als Maria aus Puerto Rico: Das würde in heutiger Zeit gar nicht mehr gehen.

Das ist schon der erste Bonus der Neuverfilmung: Spielberg hat nicht auf zugkräftige Filmstars gesetzt, sondern auf junge, starke Musicalentdeckungen:  Rachel Zegler als Maria, David Alvarez als Bernardo, Mike Faist als Riff und vor allem Ariana DeBose als Anita. Der einzige Star ist Ansel Elgort als Tony, bekannt aus „Baby Driver“ und „Die Bestimmung“, der aber ebenfalls weidlich Musicalerfahrung hat.

Darwinismus, Verteilungskampf und Gentrifizierung

Spielbergs Film wurde nicht in Studiohallen gedreht, sondern viel draußen, auf den Straßen. Und da gibt es nicht nur hinreißende Tanzszenen, auch zahllose Passanten bleiben dabei stehen, schauen zu oder machen mit,  Autos stehen im Stau, die Fahrerinnen und Fahrer hupen im Takt. Wie überhaupt Alltagsgeräusche ein fester Bestandteil des Soundtracks sind. Und Bilder von dampfenden Gullys und dreckigen Pfützen eine harte Authentizität vorgeben.

Die legendären Choreografien von Jerome Robbins werden zwar übernommen, aber neu akzentuiert. Im Film von 1961 wirkten selbst die Kämpfe der rivalisierenden Gangs wie Tänze. Hier aber wirken, genau andersherum, selbst die Tänze wie Kämpfe. Unerbittlich stehen sich die Gangs dabei gegenüber. Hautfarbe oder Rasse spielt nur vordergründig eine Rolle. In Wirklichkeit geht es um Darwinismus, den Verteilungskampf in der Gentrifizierung. Und der wird hier weit blutiger und härter geführt als im Original.

Immer ein bisschen fremd und zu lieb in allen „West Side Storys“ wirkt die Figur des Tony zwischen diesen kampfeslustigen Gangs. Aber selbst dafür findet Spielberg eine plausible Erklärung: Auch sein Tony ist ein Schläger, er war dafür sogar im Knast und ist jetzt nur auf Bewährung draußen. Seine Versöhnungsversuche haben so ein ganz anderes Gewicht. Und Ansel Elgort besteht den Tony-Test im „Maria“-Song, den selbst versierte Bühnendarsteller selten hinkriegen.

60 Jahre später ist auch Rita Moreno wieder zu sehen

Dann aber ist da noch Rita Moreno. Im 61er-Film spielte sie die Anita, ohnehin die stärkste Rolle des ganzen Musicals. Im 21er-Film aber kehrt die mittlerweile 89-Jährige noch einmal in einer Schlüsselrolle zurück: Der Laden, in dem Tony arbeitet, wird nicht mehr von dem Krämer Doc betrieben, sondern von dessen Witwe Valentina. Während Morenos Anita 1961 in Docs Laden fast vergewaltigt wurde, ist sie es nun im neuen Film, die die Jets von dieser Gewalttat zurückhält und sie als Schande für ihre Väter bezeichnet.

Vor allem aber singen hier nicht Maria und Tony „Somewhere“ als Liebesduett, jenes berühmte Lied über ein mögliches Leben in Harmonie, irgendwann in einer nahen Zukunft, hier singt es Rita Moreno mit all ihrer Lebenserfahrung. Und bricht damit die Herzen der Zuschauer. 

Schade nur, dass mit Stephen Sondheim erst vor wenigen Tagen der letzte kreative Schöpfer der „West Side Story“ gestorben ist und den neuen Kinostart nun nicht mehr erleben wird. Spielbergs Neuverfilmung ist ein Meisterwerk, das man am liebsten gleich noch einmal sehen möchte. Eine radikale Neuinterpretation. Ein einziger, mitreißender Bilder- und Gesangsrausch. Und so kurz vor Jahresende noch der Film des Jahres. Nur den alten Filmklassiker, den wird man danach wohl nicht mehr schauen wollen.

„West Side Story“ 157 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im Cinemaxx Dammtor, UCI Mundsburg, Othmarschen/Wandsbek

Das Original von 1961 zeigt das Metropolis-Kino am 15.12., 19.12. und 25.12.