Hamburg. Der Musikjournalist Alex Ross spricht über die Doku „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“ und über die Gefahr von Wagner's Musik.
Beinharte Bewunderer von Richard Wagner haben eine Jahreszeit mehr als alle anderen– vier normale und die Bayreuther Festspiele. In seinem Dokumentarfilm „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“ – die Reihenfolge ist garantiert kein Zufall - begibt sich Axel Brüggemann in diesen Kosmos aus Noten, Mythen und Stabreimen.
Neben vielen Wagner-Praktikern kommt auch ein prominenter Nicht-Musiker zu Wort: der US-amerikanische Musikjournalist Alex Ross, dessen letztes Buch „Die Welt nach Wagner“ alles erklärt und dechiffriert, was Wagnerianer schon immer geahnt, aber nur selten gewusst haben. Ein Gespräch über einen Komponisten, der süchtig machen kann.
Hamburger Abendblatt: „Wagners Musik ist besser, als sie klingt.” Nicht, wie oft und gern behauptet, von Mark Twain, immer noch lustig. Aber auch wahr?
Alex Ross: Vielleicht sollte man besser sagen, dass Wagners Musik schlechter ist, als sie klingt. Oder: Für manche klingt es gut, für andere nicht. Diese Banalität ist die Realität aller Musik.
Wie gefährlich sind seine Opern, wie gefährlich seine Konzepte? Oder ist das nur eine einfache Entschuldigung für die Angst, von ihm fasziniert zu sein und sich in diesem Riesen-Thema zu verfangen und zu verlieren?
Ross: Ich glaube, dass Wagners Kunst nicht mehr so gefährlich ist. Man kann einige Neo-Nazis finden, die für Wagner schwärmen, aber jetzt hat die Pop-Kultur viel mehr Macht, viel mehr Gefahr. Als US-Soldaten Gefangene in Guantanamo folterten, haben sie Heavy Metal und Rap gespielt, nicht Wagner! Es ist komisch und auch ein bisschen beunruhigend, dass Kino-Bösewichte immer noch Wagner hören. Das ist ein fauler, fragwürdiger Anachronismus.
Die beste Methode, um damit zu beginnen, Wagnerianer zu werden?
Ross: Das Beste ist, eine „Ring“-Inszenierung zu sehen. Letztlich existiert Wagner nicht wirklich außerhalb der Oper, und der Ring ist seine großartigste dramatische Schöpfung.
Der größte Fehler, wenn jemand Wagnerianer werden möchte?
Ross: Auf keinen Fall sollte man mit dem „Parsifal“ anfangen. „Parsifal“ ist immer noch ein bisschen gefährlich.
Ihr großartiges Buch „Die Welt nach Wagner“ beginnt mit der Aussage, dass Sie an Wagner zunächst nur als „Problem“ interessiert gewesen seien. Haben Sie dieses Problem auf den folgenden 900 Seiten in den Griff bekommen? Oder ist und bleibt es ein nicht endendes Labyrinth aus Informationen und Interpretationen, weil jeder es als genau das beschreibt?
Ross: Alle Künstler, die Generationen überdauern, machen Wandlungen durch und werden problematisch, auf eine produktive Weise. Wenn wir das „lösen“ könnten, würden wir das Interesse an ihnen verlieren. Ich habe also nicht geplant, dieses „Problem“ zu lösen. Vielmehr wollte ich mich den übermäßig ordentlichen Erklärungen in den Weg stellen, ob sie nun von den Fanatikern kommen oder den Gegnern. Ich schrieb, dass ich die „großartigen Verwirrungen“ des Wagnerismus wiederherstellen wollte, und widersprüchliche Antworten deuten darauf hin, dass das gelungen ist. Manche glaubten, ich würde versuchen, Wagner zu zerstören; andere, dass ich ihn entschuldigen wolle. Aber ich glaube, dass ich der Komplexität dieses Falls treu geblieben bin. Ich habe versucht, dem Beispiel Thomas Manns zu folgen, dem perfektesten Wagnerianer von allen, und bis zum Ende zwiespältig zu bleiben.
Wie war Ihr erstes Mal bei den Bayreuther Festspielen?
Ross: Das war im Jahr 2000, für den „Ring“ von Jürgen Flimm und Erich Wonder. Vom ersten Moment an habe ich diesen Ort geliebt und liebe ihn immer noch. Für Amerikaner, die an eine Kultur gewöhnt sind, in der klassische Musik immer als etwas Randständiges und Fragliches gilt, ist das Festspielhaus fast wie eine Art High-End-Disneyland, wo sich alle um einen herum in der gleichen Erfahrung suhlen.
Was ist schwieriger: diese Musik zu lieben oder sie zu hassen?
Ross: Beide Triebe scheinen gleichermaßen einfach zu sein. Man wird nur sehr wenige Menschen finden, die sagen: Na ja, Wagner ist ganz in Ordnung, oder: irgendwie nicht übel. Um noch einmal auf Thomas Mann zu verweisen: Es geht um leidenschaftliche Ambivalenz – eine Liebe, die sich nie beruhigt und immer fragt.
Was ist typisch deutsch an Wagner?
Ross: Von außen ist das schwer zu beantworten. Ich frage mich, ob Mann recht hatte als er dachte, dass Wagner trotz seines extremen Nationalismus nicht besonders deutsch war, auf die Art und Weise, wie das Deutschsein im 19. Jahrhundert definiert wurde. Es ist kein Zufall, dass französische Künstler und Autoren von Wagners Werk so elektrisiert wurden. Dieses extravagante Ausdiskutieren von Tiefen entsprach sehr den Anliegen der französischen Avantgarde im späten 19. Jahrhundert.
Was ist universell verständlich in Wagner?
Ross: Das ist eine großartige Frage. Ich glaube, es hat mit seinen außerordentlich fließenden musikalischen Repräsentationszuständen zu tun – nicht nur die Extreme von Freude und Schmerz, sondern auch die Sphären dazwischen, das Bedauern, die schwindende Hoffnung, die brodelnde Wut, das wehmütige Erinnern.
Was macht ihn für die heutige Zeit relevant?
Ross: Wagner verehrte Macht, aber er war auch ebenso ein brillanter Kritiker dieser Macht, besonders im „Ring“. Dieser Widerspruch lässt ihn auch bedeutsam in der Gegenwart sein, in der das Internet uns gleichzeitig zu befreien und einzuengen scheint, uns begeistert und foltert.
Was wird Wagner für morgen relevant bleiben lassen?
Ross: Vorausgesetzt, es wird ein morgen geben, dann glaube ich, dass die gleichen Qualitäten ihn relevant bleiben lassen: Er hält dem Besten und dem Schlimmsten der menschlichen Natur einen Spiegel vor.
Vier Stunden „Tristan“ oder eine Stunde Rossini – was ist für Sie schmerzhafter?
Ross: Weder noch, keines von beidem ist auch nur ansatzweise schmerzhaft!
Film: „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“ läuft im Abaton und im Zeise / Buch: Alex Ross „Die Welt nach Wagner: Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne“ (Rowohlt, übersetzt von Gloria Buschor und Günter Kotzor, 912 Seiten, 40 Euro).