Hamburg. Werden Autorinnen abgewertet? Nicole Seifert findet: ja. Die Literaturexpertin tritt mit ihrer aussagekräftigen Studie in Hamburg auf.
Der von Nicole Seifert betriebene Literatur-Blog „Nacht und Tag“ ist speziell: Auf ihr veröffentlicht die Literaturwissenschaftlerin seit drei Jahren ausschließlich Kritiken und Leseempfehlungen von Büchern weiblicher Autoren.
Ausgangspunkt dieses selektiven Lesens war Seiferts Erkenntnis, dass der Literaturbetrieb sexistisch sei und das Schaffen von Schriftstellerinnen oft abgewertet werde. Am Donnerstag tritt Seifert mit ihrem Buch im Literaturhaus auf.
Hamburger Abendblatt: Sie haben sich vor drei Jahren entschlossen, aus Verärgerung über die Marginalisierung von Schriftstellerinnen nur noch von Frauen verfasste Literatur zu lesen und das in Ihrem Blog festzuhalten. Wie ist es Ihnen dabei ergangen?
Nicole Seifert: Ich muss sagen, das waren die tollsten Lesejahre seit langer Zeit, weil ich so viel Neues – und Altes – entdeckt habe. Die Beschäftigung mit der Geschichte weiblichen Schreibens hat das Ganze noch dazu in einen spannenden Zusammenhang gestellt.
Leben wir in einer Zeit, in denen Frauen tatsächlich die Fähigkeit abgesprochen wird, literarisch schreiben zu können? Zumindest wenn man sich die Liste der Preisträger und Preisträgerinnen anschaut, könnte man einen anderen Eindruck bekommen. Den Deutschen Buchpreis etwa gewannen bisher genauso viele Männer und Frauen.
Seifert: Den Deutschen Buchpreis erhalten erst genauso viele Autorinnen wie Autoren, seit die Jury paritätisch besetzt wird, das ist seit fünf, sechs Jahren der Fall. Ich war selbst überrascht, wie präsent geschlechtsspezifische Vorurteile in der Literaturkritik immer noch sind. In meinem Buch zeige ich, wie anders Bücher von Autorinnen immer noch oft bewertet und besprochen werden. Und alle Autorinnen, mit denen ich während meiner Recherche gesprochen habe, hatten eigene Geschichten beizusteuern – das sind keine Einzelfälle.
Ihrem Befund der Männerdominanz in der Literatur muss jeder zustimmen, der leidenschaftlich liest. Sie unterfüttern das allgemeine Empfinden mit Zahlen, die sich auf die Anteile von Schriftstellerinnen in den Verlagsprogrammen, den Schulbüchern und Universitätsveranstaltungen, den Feuilletons beziehen. Können Sie etwas zur Entschuldigung des Mannes, der derlei geschehen ließ oder aktiv vorantrieb, vorbringen?
Seifert: Um Schuld geht es mir tatsächlich gar nicht. Ich möchte vielmehr ein Bewusstsein für die Schieflage in unserem Leseverhalten und im Literaturbetrieb. Da geht es um veraltete Strukturen, die wir nur alle zusammen ändern können, und da sind vor allem die gefragt, die in Schlüsselpositionen sitzen, die lehren oder Veranstaltungen oder Verlagsprogramme planen.
Wenn man in die Vergangenheit schaut, kann man zur dem Schluss kommen: Die gesellschaftliche Deklassierung der Frau sorgte für eine deutliche Unterrepräsentation im kulturellen Schaffen. Das erklärt zumindest, dass bei den Klassikern in unseren Bücherregalen so wenig Schriftstellerinnen stehen. Stimmen Sie dem zu?
Seifert: Ja und nein. Frauen hatten lange nicht dieselben Bildungschancen und wurden aktiv aus der öffentlichen Sphäre herausgehalten, durften oder sollten auch nicht schreiben. Aber Frauen haben immer trotzdem geschrieben, schon genauso lang wie Männer. Dass sie in den Literaturgeschichten und im Kanon kaum vorkommen, ist eine Frage der Wertung, dessen, was wir für literarisch wertvoll halten und was – aus fragwürdigen Gründen – nicht. Es gibt ganze Bibliotheken wiederzuentdecken.
Ist Literatur der ideale Anschauungsgegenstand, um die Überhöhung des Männlichen in der Menschheitsgeschichte darzulegen?
Seifert: Sie eignet sich schon sehr gut dafür. Für mich ist sie es auf jeden Fall, weil ich nun mal Literaturwissenschaftlerin bin. Aber ich fürchte, jeder andere Blickwinkel würde zum selben Ergebnis führen, das zeigen ja die vielen unterschiedlichen Bücher, die es aktuell zum Thema Patriarchat gibt.
Wie könnte der sich „selbst erhaltende Kreislauf der Männerdominanz“, wie Sie es nennen, durchbrochen werden?
Seifert: Mehr Frauen in den Literaturwissenschaften und an den Spitzen der Verlage, in den Jurys und auf den Podien werden da schon viel bewirken, und es werden ja mehr. Aber ich finde das Wichtigste, dass sich in den Köpfen der Männer etwas tut, dass sie sich den vermeintlichen Frauenthemen öffnen. Denn welche Themen gehen denn heute noch nur Frauen an?
Wie erklären Sie sich, dass immer noch gerne von „Frauenliteratur“ gesprochen wird, aber niemand auf die Idee käme, Titel wie „Moby Dick“ oder „Portnoys Beschwerden“ in die Männerecke zu stellen?
Seifert: Die Welt der Männer wurde immer als das allgemein verbindliche dargestellt, in den Geschichtsbüchern wie in den Literaturgeschichten, davon zeugt noch unsere heutige Medienlandschaft. Das Weibliche wurde immer das Spezielle, Nischige dargestellt, das Männer nichts angeht. Bis heute lesen Jungen und Mädchen in der Schule praktisch ausschließlich Bücher von Männern. So lernen Mädchen, sich in männliche Figuren und Ansichten hineinzuversetzen, umgekehrt kommt das aber nicht vor. Das hat Folgen für unsere Gesellschaft, und keine guten.
Warum ist Ihrer Meinung nach Literatur von Autorinnen nichts für manche Männer?
Seifert: Ja, das ist eben eine dieser Folgen: Das Weibliche wird in unserer Kultur abgewertet, das Männliche davon abgegrenzt und aufgewertet. Philipp Tingler hat beim Bachmann-Wettbewerb an einem der Texte bemängelt, dass „er“ darin nicht vorkomme, also seine Perspektive des weißen, privilegierten Mannes. Als wäre das ein literaturkritisches Kriterium. Männer sind das Zentrum unserer Welt, damit geht die Annahme einher, sich mit anderen Perspektiven nicht befassen zu müssen. Dabei entgeht einem auf diese Weise so unheimlich viel.
Gibt es, ästhetisch gesehen, ein dezidiert männliches oder weibliches Schreiben?
Seifert: Na ja, es gibt diese Aussagen von Marcel Reich-Ranicki, demzufolge Frauen angeblich keine Romane schreiben konnten, aber besonders gut Gedichte. Das sind biologistische, sexistische Vorurteile, nichts spricht dafür, dass das so wäre. Die Literaturwissenschaft ist heute sehr überwiegend der Meinung, dass es solche Unterschiede nicht gibt. Aber Frauen haben - bedingt durch ihre anderen Lebensumstände - über andere Themen geschrieben, haben eigene Traditionen. Das ist ein besonders spannendes Thema, mein persönliches Lieblingskapitel in „Frauen Literatur“.
In Ihrer Studie konzedieren Sie, dass sich derzeit mehr Diversität in den Verlagsprogrammen und vielleicht auch dadurch bedingt auf den Literaturseiten findet. Wie optimistisch stimmt Sie das?
Seifert: Im Moment gibt es viel Grund zu Optimismus. Allerdings war das im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte immer mal wieder so, und trotzdem gerieten Autorinnen jedesmal wieder in Vergessenheit. Trends bewirken auf längere Sicht nichts, es braucht schon ein wirkliches Umdenken, damit sich langfristig etwas tut.
Nicole Seifert stellt ihr Buch am 30.9., 19.30 Uhr, im Literaturhaus vor. Es gibt auch Streamingtickets, alle Infos unter www.literaturhaus-hamburg.de