Hamburg. Philipp Stölzl hat Stefan Zweigs Novelle neu verfilmt. Ein Gespräch über Bezüge zur Gegenwart und einen aktuellen Seriendreh.
Philipp Stölzl ist einer der vielseitigsten Regisseure Deutschlands. Er hat schon alpine Dramen gedreht („Nordwand“), Klassiker-Biografien („Goethe!“), Abenteuerfilme („Winnetou – Der Mythos lebt“), historische Dramen („Der Medicus“) und ein Musical („Ich war noch niemals in New York“).
Außerdem inszeniert er gern Opern, arbeitet für das Theater und dreht Musikvideos, unter anderem mit Madonna, Mick Jagger, Dave Stewart und Luciano Pavarotti. Gerade bereitet er eine Serie vor, die auf seine Schauspielhaus-Inszenierung von Mary Shelleys Klassiker „Frankenstein“ zurückgeht.
Hamburger Abendblatt: Nicht jede Literatur drängt danach, verfilmt zu werden. Warum die „Schachnovelle“?
Philipp Stölzl: Der Film ist ein Versuch, dieses immer noch bestürzende ikonografische Werk über die Nazigrauen in eine intensive Leinwanderfahrung zu übersetzen. Zweigs Text hat etwas Kafkaeskes, ist ein bleierner Albtraum. Da ist so eine rätselhaft-atmosphärische Tonlage drin, die Kino im Gegensatz zu Fernsehen gut kann. Im Film stürzen wir mit dem gefolterten Protagonisten in die völlige geistige Erosion, der Zuschauer kann am Ende nicht mehr zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden. Eine Art Katharsis. Es gibt in der Kinogeschichte einige Beispiele, wo so etwas gut funktioniert, zum Beispiel im großartigen „Mulholland Drive“ von David Lynch. Der wirkt in Kopf oder Seele nach, gerade weil sich das Rätsel nie enthüllt.
Was für ein Verhältnis haben Sie zu Stefan Zweig und seinen Werken?
Stölzl: Als Mensch ist er mir eher fremd. Auch in Maria Schraders tollem Film „Vor der Morgenröte“ ist das so geblieben. Aber natürlich sind „Briefe einer Unbekannten“ und „Sternstunden der Menschheit“ große Literatur, beide episch groß gedacht und auch emotional.
Spielen Sie selbst Schach?
Stölzl: Ja, tatsächlich. Sehr gern und ganz schlecht. (lacht) Mein mittlerer Sohn ist mein Spielpartner, wir sind als zwei leidenschaftliche Dilettanten perfekte Gegner. Richtige Schachspieler würden über unsere Matches natürlich nur lächeln. Aber das ist ja das Schöne an Schach, dass völlige Laien das genauso spielen können wie die Profis. Es ist quasi offen für alle Gewichtsklassen. Die Partien im Film sind alle sehr akkurat dargestellt, jeder Komparse ist tatsächlich ein Vereinsspieler. Das guckst du aufs Brett und hast keine Ahnung, warum jetzt schachmatt ist, die denken ja alle 30 Spielzüge im Voraus. Ich habe immer Respekt vor dem Urteil der Profis. Meine Schwester ist Musikprofessorin. Wenn in meinen Filmen Leute Instrumente spielen, habe ich immer Sorge, dass sie das nicht glaubhaft findet.
Ihren Hauptdarsteller Oliver Masucci konnte man zuletzt im Film von Oskar Roehler als Rainer Werner Fassbinder sehen. Diese Rolle ist ziemlich anders, oder?
Stölzl: Olivers Fassbinder ist eine monströse Riesenleistung, aber hier spielt er einen ganz anderen Bogen. Die „Schachnovelle“ ist eher eine Passionsgeschichte, ein Leidenspfad. Man sieht einen Mann vom hohen Ross fallen in die komplette Dunkelheit, Verzweiflung und Wahn. Die Figur ist am Beginn bewusst ambivalent geführt. Er ist ein elitärer Dandy, der das Geld von reichen Adeligen auf Nummernkonten in der Schweiz verschiebt, nicht unbedingt sympathisch. Wenn er und seine Frau mit ihrer teuren Limousine durch die Demonstration fahren und ihnen die armen Leute den Außenspiegel einschmeißen, wird der Klassenkampf deutlich, der hinter dem Umsturz der Nationalsozialisten steckt. Man spürt den Hass der Zurückgelassenen. Dann gerät er in das Mahlwerk der Gestapofolter und wird, je mehr sie ihn dort entmenschlichen, immer zarter und durchlässiger, berührt einen als Zuschauer immer mehr.
Der Text ist von 1942. Wo sehen Sie Bezüge zur Gegenwart?
Stölzl: Ich bin der Sohn eines Museumsdirektors und hab gelernt: Der Blick zurück erzählt immer auch etwas über das Heute. Auf der simplen Oberfläche kann man an der Geschichte des Anschlusses von Österreich an Deutschland sehen, wie unwahrscheinlich dünn die Schicht der Demokratie werden kann. Man glaubt es die ganze Zeit nicht, steckt den Kopf in den Sand, aber Stunden später ist die Welt plötzlich eine andere. Und das passiert immer wieder, siehe Afghanistan. Wir können es uns in unserem europäischen Selbstverständnis nicht gemütlich machen und annehmen, dass die Meinungsfreiheit immer da sein wird. Unweit von uns, in Belarus, landen Menschen dafür für Jahrzehnte im Arbeitslager. Im Film verliert die Hauptfigur noch viel mehr, sogar den Verstand. Interessant ist, dass Zweig sich für seine Anklage die „weiße“ Folter aussucht, obwohl er ja von den physischen Grauen der KZs wusste, von den Fleischerhaken in den Kellern von Plötzensee.
Haben Sie sich eigentlich die Verfilmung aus dem Jahr 1960 angesehen?
Stölzl: Als Vorbereitung für meine eigenen Dreharbeiten. Kein Meisterwerk, das von einer Neuverfilmung abschrecken würde. Der Film hat das leicht Hölzerne, was das deutsche Kino dieser Jahre so ausmacht. Außerdem haben sie mit der Brechstange eine melodramatische Dreiecksgeschichte um eine schöne Tänzerin reingebastelt, die zwischen Häftling und blondiertem Gestapomann steht. Curd Jürgens spielt natürlich super, aber man guckt ihm leider nur von außen zu, wie er wahnsinnig wird, bleibt in der Distanz. Wir haben das bewusst anders gemacht, gehen stattdessen subjektiv mit dem Protagonisten durch den Film, immer ganz nah dran.
Für Jürgens kam der Film damals sechs Jahre nach seinem Erfolg in „Des Teufels General“, in dem er auch am Rande des Wahnsinns balanciert.
Stölzl: Das wiederum ist ein ziemlich guter Film, fast ein bisschen Tarantino-mäßig. Die Figur, die er da spielt, ist perfekt. Für mich ist der Film ein Klassiker.
Sie haben gerade „Der Schwarm“ nach dem Roman von Frank Schätzing als Serie gedreht ...
Stölzl: Eigentlich wollte ich ein großes Theaterstück in München proben, aber das ist durch die Pandemie in den Herbst gerutscht. Bei „Der Schwarm“ gab es einen kurzfristigen Ausfall bei der Regie, und ich bin für die letzten beiden Folgen eingesprungen. Das hat Spaß gemacht, mal so als Handwerker in einem Team zu arbeiten. Man hat das Vergnügen des Drehens und trägt nicht die Last des Gelingens auf den Schultern. Außerdem wurde im wunderschönen Rom gedreht, das war natürlich klasse, da zwei Monate sein zu dürfen. Lustigerweise bin ich nach meinem Musikschiff („Ich war noch niemals in New York“) und meinem Totenschiff („Die Schachnovelle“) wieder auf einem Studioschiff gelandet. Diesmal hatte ich einen Eisbrecher, der von Meeres-Aliens angegriffen wird. (lacht) Genre! Ein Science-Thriller!
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Wenn Sie sich Ihre Filmografie ansehen: Gibt es da einen roten Faden, oder sind es alles Einzelstücke?
Stölzl: Das kann man selber schwer beurteilen finde ich. Ich mache nur Stoffe, die mich wirklich begeistern, und hab Spaß an der Reise ins Unbekannte. Deswegen sind die Filme so verschieden. Nach so einem heiteren Udo-Jürgens-Musicalfilm kommt dann eben ein hartes Drama wie der Zweig. Wenn ich nur Routine abrufe, wird es nicht gut. Diese Mischung aus Kino und Bühne bei mir im Künstlerleben, das ist in diesem Sinne natürlich ein absolutes Privileg, mehr Abwechslung geht eigentlich gar nicht.