Hamburg. Pianist Alfred Brendel (90) gab einen Meisterkurs in der Hochschule für Musik und Theater. Die Begegnung mit einer Legende.

„Nein, nein, nein!“, ruft Alfred Brendel in den Saal – und natürlich richten sich sofort alle Blicke auf ihn. Wenn die Pianistenlegende, die in die Hochschule für Musik und Theater (HfMT) gekommen ist, um einen zweitägigen Meisterkurs zu geben, so vehement dazwischengeht, dann ist es sicher besser, genau hinzuhören.

Alfred Brendel: Der 90-Jährige ist eine absolute Autorität

Den Sängerinnen und Sängern, die hier Teile aus Schuberts „Winterreise“ vortragen und dem Liedbegleiter am Klavier könnte sogar der Angstschweiß auf der Stirn stehen, schließlich ist der 90-Jährige eine absolute Autorität. Doch dazu ist der Ton an diesem Spätnachmittag viel zu freundlich und geradezu milde. Wenn Brendel urteilt „Das ist schön, aber es ist nicht richtig“, dann tut er das mit einem Lächeln. Und: Er gibt sehr präzise Hinweise, was zu verbessern ist. Mal klingt ihm das Ü in „über“ zu sehr wie ein I (und wird so lange wiederholt, bis sich das Problem erledigt hat), dann ist ihm die Phrase „ohne Ruh“ zu statisch („Es muss eine innere Bewegung stattfinden!“).

Nora Kazemieh, Geneviève Tschumi, Mina Yu und Simon Yang jedenfalls saugen jede Anmerkung begierig auf – denn als Liedbegleiter verfügt Brendel über einen unermesslichen Erfahrungsschatz auch in Sachen Kunstlied. Und den teilt er spürbar gern mit den ehemaligen oder aktuellen HfMT-Studentinnen und Studenten. Die kommen aus den Klassen von Yvi Jänicke, lange Jahre Ensemblemitglied an der Staatsoper und seit 2008 Professorin für Gesang, und Carolyn Grace James; Pianist Daan Boertien ist extra aus den Niederlanden angereist, um hier dabei sein zu können. Und auch ihm hat Brendel einiges zu sagen. „Lassen Sie die langen Noten klingen, ohne ihnen auf den Kopf zu hauen“, fordert er, wünscht sich mal mehr, mal weniger Pedaleinsatz und leitet auch schon mal seine Stilkritik mit einem „Sie sind sehr musikalisch, aber ...“ ein.

Stets die Wertschätzung für den Nachwuchs spürbar

Doch egal, ob Brendel eine Sängerin fragt „Müssen Sie da atmen?“ oder vom Pianisten fordert, nun doch „auch mal leise“ zu spielen: Stets ist die Wertschätzung spürbar, die der alte Meister für den Nachwuchs hat. Mag ihm das Gehen inzwischen auch etwas schwerer fallen, sein Wissen weiterzugeben scheint ihm weit wichtiger zu sein, als die eigene Bequemlichkeit. Zumal, wenn das künstlerische Niveau so hoch ist wie hier, wie er in einer kurzen Pause eher nebenbei bemerkt. Und wenn er zwischendurch kurz dazu ansetzt, über Legenden wie Sviatoslav Richter, Peter Schreier oder Lotte Lehmann zu sprechen, wenn er deren Einspielungen der „Winterreise“ zum Vergleich heranzieht, dann wird sofort klar, welch Wissensschatz da schlummert.

Erfahrungswissen, das Brendel in sechs Karrierejahrzehnten gesammelt hat, bevor er 2008 seine aktive Laufbahn als Pianist mit einem Konzert in Wien beendete. Sein Körper mache nicht mehr mit, es sei die Zeit gekommen, ein neues Kapitel aufzuschlagen, sagte er damals. Und es wirkte nie verbittert oder auch nur wehmütig, wenn er von einer „physischen Altersgrenze“ sprach, die er nun einmal überschritten habe. Es gebe ja noch so viel anderes zu tun. Und tatsächlich war Brendel damals schon ein versierter Autor, der sich sehr lesenswert Gedanken über Musik machte, ein Dichter auch, mit Hang zum leicht skurrilen Humor. Und ein Lehrer, der bis heute unter anderem seinen Glaubenssatz weitergibt, dass es stets falsch sei, sich „gegen den Komponisten zu wenden“ und die eigene Interpretation über das Werk zu stellen, wie er es etwa dem Klavier-Exzentriker Glenn Gould vorwirft.

Brendel: Man muss den Komponisten „wie einen Vater lieben“

Man müsse den Komponisten „wie einen Vater lieben“, hat er einmal in einem Interview mit der „Zeit“ gesagt – und das verlangt er auch von den jungen Künstlerinnen und Künstlern im Probensaal der Hochschule. Die sind im Übrigen nicht allein, auch Philharmoniker-Chef Kent Nagano und seine Frau, die Pianistin Mari Kodama, sind gekommen, um mit den „Winterreise“-Noten in der Hand, Brendels Anmerkungen zu folgen. Ebenso wie HfMT-Präsident Elmar Lamp­son, der nicht jeden Tag einen so prominenten Gast in seinem Haus begrüßen kann.

Und so geht es gemeinsam über den „Frühlingstraum“ und die „Einsamkeit“ zum „Stürmischen Morgen“ und zum „Muth“, und als Nora Kazemieh mit enormer Ausdrucksstärke zum Abschluss den „Leiermann“ besingt, ist Brendel das ein herzwärmendes „Da war vieles schon sehr gut“ wert – um dennoch sofort mit Sängerin und Pianist an Details zu feilen.

Zu Ehren von Alfred Brendel gibt es Kammerkonzerte

Nach zweieinhalb Stunden verklingt der letzte Ton für diesen Tag und Brendel kündigt mit einem selbstironischen Lächeln an: „Wir sehen uns morgen zu weiteren überflüssigen Kommentaren.“ Bei den Meisterschülerinnen und -schülern ist die Stimmung gelöst: Vorher seien sie schon etwas aufgeregt gewesen, berichten einige, aber dieser Mann sei eben so ganz und gar nicht einschüchternd, sondern im Gegenteil zugewandt und ausgesprochen humorvoll. „Er hört so genau hin und entdeckt Kleinigkeiten, die eine ganz große Wirkung haben“, schwärmt Daan Boertien, der aus diesen Stunden ganz besonders schöpft, weil er demnächst mit einem Bariton die „Winterreise“ für eine CD-Veröffentlichung einspielen will.

Auch die anderen möchten so viel wie möglich aus diesen Tagen herausholen, einige werden zusätzlich die Kammerkonzerte der Philharmoniker besuchen, die zu Ehren von Brendel und in seiner Anwesenheit an diesem Wochenende veranstaltet werden. Aber das Sahnehäubchen hat Gesang-Professorin Yvi Jänicke sich für den Schluss aufgehoben: „Wer möchte, kann morgen Abend noch mit Alfred Brendel essen gehen“, verkündet sie lächelnd. Der Rest ist Jubel.

Akademiekonzerte zu Ehren von Alfred Brendel Sa 4.9., 11.00 (mit Mari Kodama) und So 5.9., 11.00 (mit Paul Lewis), jeweils JazzHall der HfMT (Harvestehuder Weg 12), Karten unter www.staatsorchester-hamburg.de