Hamburg. Hamburg wurde für sie zum Tor der Welt: Die Koloratursopranistin Olga Peretyatko spricht über Karriere, Kind und Stressfaktoren.
Die Sache mit Hamburg und dem Tor zu Welt, die stimmte für die Karriere von Olga Peretyatko. Nachdem sie ihre Zeit im Opernstudio der Hamburger Staatsoper rum hatte, öffnete sich dieses Tor, sehr weit sogar. Große Erfolge an großen Häusern, jahrelang. Dann änderte sich einiges. Die russische Koloratursopranistin wurde Mutter und ist nun wieder zurück, für „Les Contes d’Hoffmann“, am Sonnabend ist Premiere. Ein Gespräch über Karriere, Kind und Stressfaktoren.
Hamburger Abendblatt: Wissen Sie noch, was Sie mit Ihrer ersten Gage gemacht haben und wofür Sie die erhalten haben?
Olga Peretyatko: Viel war das nicht, ganz sicher. Vielleicht habe ich damit etwas Gutes bezahlt, was ich wirklich brauchte. Ich weiß aber nicht mehr, was das war.
Wie waren die Proben für den „Hoffmann“?
Peretyatko: Der Regisseur hat so viel Fantasie und Theater-Geschmack. Ich habe noch nie mit ihm gearbeitet. Aber er ist wirklich toll. Und die Ideen, die er hat… Auf meiner Seite gibt es nur Begeisterung. Ich singe nun schon zum vierten Mal alle vier Frauenpartien in „Hoffmann“ und das war immer wieder gleich. Ein Problem dieser Oper ist ja, dass jedes Theater eine andere Version macht. Hier haben wir die längste überhaupt, und Stella singt am Ende die schönste Melodie. Im ersten Akt bin ich nicht dabei, im zweiten Akt als Olympia. Die ist eine Ballerina und eine kleine Puppe, die in diesen kleinen Kisten wohnt, und da wird alles gezeigt. Klingt ziemlich banal und normal, aber es ist superschön umgesetzt. Antonia wird alle überraschen, glaube ich. Ich bin eine kleine Fee, ein Schmetterling und das Kostüm ist phänomenal. So etwas habe ich noch nie getragen. Der Giulietta-Akt ist natürlich in Venedig, und das ist ganz deutlich dort. Wir haben diese Scheibe auf der Bühne und wir sind ständig in Bewegung. Es wird wunderschön.
Das müssen Sie jetzt sagen.
Peretyatko: Nein, es ist wirklich so. Normalerweise bin ich nicht so begeistert, ich bin immer skeptisch. Mal sehen, wie es wird. Aber hier habe ich nach den ersten Konzeptionsgesprächen schon verstanden: Das wird gut.
Was passiert, wenn Sie in Produktionen sind, bei denen Sie sich nach der ersten, zweiten, dritten Probe sagen: Warum bin ich eigentlich hier?
Peretyatko: Bei Neuproduktion ist es seltener so, weil ich eine Mitsprache habe, um etwas zu sagen und vielleicht etwas vorzuschlagen. Wenn mir etwas nicht gefällt, werden wir einen Konsensus finden. Was Sie erwähnten, ist eher bei Wiederaufnahmen, bei denen man keine Proben hat: Da muss ich in irgendwelche Inszenierungen hinein, egal, ob sie mir gefallen oder nicht. Einmal war ich kurz davor, wirklich abzusagen. Ich habe beim Kostüm einiges geändert, es ging um eine Mozart-Oper, es sollte viel geflucht werden. Das ist nicht unbedingt meins. Da war es so, dass ich fast weg war.
Ich habe auch das vage Gefühl, dass Regisseure, die Ihnen sagen, was sie machen sollen, irgendwann Probleme bekommen?
Peretyatko: Nein. Wenn es Sinn macht, werden sie überhaupt keine Probleme bekommen. Wenn es nur für einen Skandal sorgen soll, dann vielleicht...
Wie sind Sie durch die erste Corona-Zeit gekommen?
Peretyatko: Ich war in Berlin, für eine neue „Idomeneo“ an der Staatsoper, die Elektra, endlich einmal ein Bösewicht für mich. Und dann: nichts. Am 18. März wurde alles abgesagt. Die ersten zwei Wochen war ich im Koma, ich habe nur geschlafen. Vielleicht eine psychologische Schutzreaktion. Zwei Monate lang passierte nichts. Mein damaliger Professor aus der Hochschule Hanns Eisler heißt Semjon Skigin, er ist ein Genie, was Programme betrifft. Er kam und sagte: Olga, du hast leider jetzt keine Entschuldigung mehr, wir müssen das Wiegenlieder-Programm durcharbeiten, das ich schon vor drei Jahren vorgeschlagen hatte. Aber ich hatte nie Zeit. Wir haben ein Studio organisiert und er hat mir 35 Lieder gegeben, alle Wiegenlieder der Welt. Anderthalb Monate haben wir jeden zweiten Tag gearbeitet. Dann hat der Arzt mir und meinen Mann gesagt, dass ich schwanger bin. Ich wollte zunächst niemandem davon erzählen. Und mein Professor sagte: Du klingst irgendwie anders. Alles war plötzlich super persönlich, super intim und mit anderer Farbe. Und ich sagte ihm: Es klingt anders, weil ich schwanger bin. Dann habe ich entschieden: Okay, das war ein klares Zeichen des Universums. Dieses Projekt muss stattfinden. Am Ende war alles super spontan. Und dann: der Pierre Boulez Saal. Wir haben einen Anruf bekommen, dass es in zwei Tagen eine Möglichkeit gäbe. Ich sagte zu, und Anfang September haben wir das alles in zwei Tagen aufgenommen.
Ihr Vater war Bariton im Chor vom Mariinsky Theater…
Peretyatko: ... ist er immer noch…
… Sie waren dort zunächst im Kinderchor und haben Chordirigieren gelernt. Und dann haben Sie die Seiten gewechselt. Hat Ihr Vater gesagt: Kind, bist du verrückt? Oder war er total stolz?
Peretyatko: Er war die einzige Person, die immer sicher war, dass ich singen soll. Während des Studiums hatten wir andere Prioritäten. Das da musst du nicht als Solist denken, das ist ganz anders. Aber er meinte: Nein, du musst wirklich solistisch weiterdenken. Ich war 15, alles hat mich interessiert, aber nicht die Bühne. Und dann kam plötzlich dieser Moment kam, in dem ich verstanden habe, es wird jetzt in diese Richtung gehen. Ich habe angefangen, Biografien von allen möglichen Sängern zu lesen. Papa war sich sicher, dass ich das schaffe.
Und jetzt ist er ein Vater, der wie eine Eiskunstlauf-Mutti alle Artikel ausschneidet und zu den Nachbarn sagt: DAS ist meine Tochter?
Peretyatko: So ist eher meine Mama. Papa ist eine ruhige Person. Er singt immer noch im Mariinsky. Alle wissen, wessen Vater er ist, er hat jetzt einen Titel: „Sternen-Vater“. Er versteht schon, worum es bei Stimmen geht. Wenn Du im Mariinsky mehr als vierzig Jahre singst, dann hast du jeden gehört.
Sie waren von 2005 bis 2007 im Hamburger Opernstudio, während der Amtszeit von Simone Young. Wie war diese Ausbildungszeit für Sie?
Peretyatko: Für mich war alles neu, nach drei Jahren in Berlin war mir klar: Jetzt muss ich das Theater kennenlernen, erfahren, wie diese Maschine tickt. Meine Biografie habe ich nach Zürich, München und Hamburg geschickt, habe vorgesungen, wurde überall genommen und habe Hamburg ausgewählt. Warum? Weil es nur zwei Stunden Entfernung nach Berlin sind, ich konnte pendeln und für mich war es wichtig, dass ich meinen Abschluss schaffe. Ich wäre hier sehr gern hier geblieben, Simone Young hat mich aber nicht genommen. Sie sagte: Deine Stimme ist zu klein, du musst bestimmte Partien an bestimmten Theatern singen, dann, vielleicht, kommst du zu uns zurück. Natürlich war ich beleidigt. Das Gespräch war im Juni. Ende Juni habe ich den Operalia-Wettbewerb gewonnen und im Juli war ich als Desdemona beim Rossini Opera Festival. Für mich war damals schon klar: Ensemblemitglied, das wird kompliziert. Ich wollte reisen, ich wollte vorsingen. Ich war dankbar für die zwei Jahre hier, das war toll. Und ich habe verstanden, wie es funktioniert.
Sie sind damals der großen Sopranistin Joan Sutherland begegnet, Spitzname „La Stupenda“, jener Koloratursopranistin, die der Grund war, dass Sie überhaupt Sängerin werden wollten. Haben Sie einen Ton herausbekommen? Sind Sie ohnmächtig geworden, hat sie Ihnen gesagt: Mädchen, aus Dir wird was?
Peretyatko: Im Chor habe ich 2. Alt gesungen und als Mezzosopranistin begonnen. Dann sagte mir meine Lehrerin: schöne Stimme, aber Du bist Sopran. Und da war ich sehr traurig, weil ich ja diese starken Frauen singen wollte, Carmen war immer mein Traum. Ich war depressiv und habe drei Tage lang nur eine Platte von Joan Sutherland gehört. Danach dachte ich mir: Okay, es gibt ein Leben als Sopran. Bei einem Wettbewerb in Österreich war sie in der Jury. Ich habe einen dritten Preis gewonnen und war superstolz, denn erster und zweiter Preis hatten beide ihre Lehrerinnen in der Jury. Vor dem Finale sagte jedes Jurymitglied, was es dachte und was am besten war. Und was sie mir sagte, wird mir immer im Gedächtnis bleiben: Mein Kind, mach nie zu viele Koloraturen, denn sie müssen immer Sinn haben. Du hast einfach viel zu viel eingebaut. Aber ich wollte mich ja zeigen. Das war ein interessantes Treffen.
Gehören Sie vor Vorstellungen in die Zirkuspferd-Kategorie, jemand, die sagt: Ich will da raus? Oder haben Sie auf den letzten fünf Metern bis zum Vorhang noch eine Panik-Attacke?
Peretyatko: Es ist unterschiedlich. Meistens ist es nur Freude, und das ist eine gute Einstellung. Wann man noch unbekannt ist – alles gut, reiner Enthusiasmus, pure Energie. Später kamen die Reisen, dann war ich berühmt und noch berühmter und es gab es die Kritiken. Dann habe ich mir Gedanken gemacht, ob ich etwas verkehrt mache. Wenn man dieses Stadium überlebt, ist alles wieder gut. Jetzt, mit einer kleinen Tochter, verstehe ich, dass mir eigentlich alles egal ist. Alles ist gut, alle sind gesund. Das Leben ist schön, egal, ob du zwei Stunden geschlafen hast. Wenn ich nach dieser Pandemie wieder singen darf, vor Publikum – ist doch wunderbar! Ich bin viel positiver geworden. Es gab eine Zeit, in der ich nachts wach lag und keine Ahnung hatte, wo ich bin. Alle Hotelzimmer sind ungefähr gleich und ich brauchte manchmal 30 Sekunden, um wieder zu wissen, in welcher Stadt ich gerade war. Da wurde mir klar: Es wäre schön, wenn ich ein bisschen langsamer sein könnte.
Also gibt es nach dem ersten Karriere-Schwung eine Phase, in der man trudelt?
Peretyatko: Ja, absolut. Und dann muss man all diese Verträge erfüllen. Als ich 37 war, hab‘ ich mein Leben komplett geändert: Land, Agentur… Das war eine existenzielle Krise.
Gab’s einen konkreten Auslöser?
Peretyatko: Es hat sich mehr und mehr angesammelt. Man schweigt und schweigt und akzeptierst alles, und irgendwann gibt es eine Explosion. Aber ich denke immer noch, dass alles, was im Leben zu dir kommt, für dich gut ist. Sie mögen das Gott nennen oder was auch immer, aber es ist ein Plan. Das heißt, du schaffst es. Es gibt einen Zweck, es gibt einen Grund.
Das alles klingt, als ob Sie unglaublich taff sind, auch mit sich selbst.
Peretyatko: Immer. Ja, das war zu streng... Jetzt lerne ich loszulassen. Früher konnte ich das nicht.
Ihre Bandbreite beim Repertoire ist beachtlich: Von Mozart über Rossini, Belcanto bis zu Rimsky-Korsakow. Brauchen Sie diese Abwechslung?
Peretyatko: An der Hochschule dachte ich, ich gehe in Richtung dramatischer Koloratursopran: Königin der Nacht, Konstanze, solche Sachen. Dann, ich war 26 und niemand wusste, wer ich bin, sang ich an der Bayerischen Staatsoper vor. Sie sagten: Ja, Blondchen! - Nein, die will ich nicht. - Aber sie sagten, du bist jung, unbekannt, du singst Blondchen. Und man sagt der Bayerischen Staatsoper nicht, nein, mache ich nicht, geht zum Teufel. Also habe ich das akzeptiert und bin lange in dem Fach geblieben. Bis der Moment kam, in dem ich sagte: Ich muss da raus. Ich hasse dieses Wort „Fach“. Ich hasse es.
Sie sind ja nicht nur Sängerin, Sie sind auch Schauspielerin. Es gibt immer eine Rolle zu spielen. Ist das toll, wenn man sich nicht nur als Sängerin zeigt, sondern auch noch über die Bühne rennen kann, Leute verprügeln, heulen, sterben, wahnsinnig werden?
Peretyatko: Es gab Zeiten, in denen es funktionierte, dass man drei Partien hatte und mit denen ein ganzes Leben lang leben konnte. Das ist vorbei. Alles ist viel schneller geworden. Wir müssen alles können. Wir müssen singen, spielen, gut aussehen, immer jung bleiben, immer gesund bleiben. Superpower-Menschen. Das ist unmöglich, aber wir müssen und alle erwarten das von uns. Was die Bandbreite meines Repertoires betrifft: Ich bleibe nach wie vor eine Sopranistin. Und wenn du Belcanto singen kannst, kannst du alles singen…
… Wir sind jetzt etwas von der Frage abgekommen…
Peretyatko: Ich mag es, auf der Bühne etwas zu sein, was ich im normalen Leben nicht bin. Verrückt sein ist auf der Bühne leichter als im Leben… Einfach nur stehen und singen, wenn die Karriere gerade begonnen hat? Das schaffst du nicht. Sie wollen viel mehr von dir.
Eine praktische Frage: Wie viel hört man eigentlich auf der Bühne von dem, was im Orchestergraben passiert?
Peretyatko: Es gibt so viele Faktoren. Es hängt davon ab, um welche Musik es geht, um welches Stück. Es gibt Stücke, wo ich einfach viel zu weit vom Orchestergraben entfernt bin, dann höre ich nichts, nur einen Rhythmus. Manche Theater haben Verstärkung, das hilft normalerweise. Man sieht den Dirigenten, sehr weit entfernt. Die Bastille-Oper in Paris, das ist wie ein Stadion, 30 Meter bis zum Dirigenten. Wenn man nah beim Orchester steht, sieht man auf den Konzertmeister. Wenn der Dirigent nicht gut genug ist, reicht es, wenn der Konzertmeister dich sieht, weil sich alle nach ihm richten. Wir haben schon vieles erlebt und müssen spontan bleiben. Schwer ist die Arbeit mit Dirigenten, die einmal entschieden haben, wie etwas sein soll und danach weder zwei Zentimeter nach links oder rechts gehen. Das ist ein bisschen stressig.
Wie gehen Sie mit Abenden um, die so mittelgut anfangen und aber auch nicht besser werden?
Peretyatko: Das passiert.
Tragen Sie sich so etwas lang nach oder genügt es, einmal darüber zu schlafen, sich einmal schütteln und dann ist es weg?
Peretyatko: Katastrophen gab es natürlich nicht. Aber Abende, an denen man krank ist und es gibt keinen Ersatz. Fürs Publikum ist egal, wie man sich fühlt, man muss irgendwie bis zum Ende kommen. Einmal habe ich einen Sänger gesehen, der einfach weggegangen ist. Schrecklich. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Nacht danach für ihn war. Crudele, si.
Welchen Karriere-Tip würde die heutige Olga Peretyatko der Studentin Olga in Berlin geben? Welchen Fehler hätten Sie am liebsten vermieden?
Peretyatko: Maria Callas hat gesagt: Wir haben am Anfang alle Dinge getan, die wir nicht hätten tun soll. Rollen, natürlich… Ich weiß es nicht. Ich sitze hier und ich singe immer noch. Also bin ich immer noch da. Wahrscheinlich habe ich alles richtig gemacht. Manchmal denke ich, vieles passierte früh. Ich weiß nicht, ob das schlecht ist oder gut. Es war so.
Können Sie mir beschreiben, wie das ist, wenn man nach einer Premiere vor den Vorhang soll und noch nicht weiß, ob es Buhs gibt oder man Sie mit Blumen bewirft – und dann der Applaus kommt? Wie Weihnachten und Ostern zusammen und drei Kinder auf einmal bekommen?
Peretyatko: (lacht) Unterschiedlich. Als Performer weißt du natürlich, was du geschafft hast. Ahnen kann man, was kommt. Manchmal will man einfach nach Hause gehen und schlafen, solche Tage gibt es auch. Doch ich kenne niemanden, der auf die Bühne geht und nur sagt: Irgendwie schaffen wir das. Wir geben alles. Jede Vorstellung kostet viel Energie, und es ist schön. Wir waren drei Stunden auf der Bühne und das Publikum entscheidet, ob es gefällt oder nicht. Das war immer so, das bleibt immer so.
Termine: Premiere von Offenbachs „Les Contes d’Hoffmann“ am 4.9. in der Staatsoper, Dirigent: Kent Nagano, Regie: Daniele Finzi Pasca. Infos: www.staatsoper-hamburg.de Aufnahme: „Songs for Maya“ (Melodya, MP3-Album, ca. 6 Euro)