Husum. Bei „Raritäten der Klaviermusik“ ist der Name Programm, keine Noten-Ausgrabung zu abseitig und positiv Verrückte bilden das Rückgrat.
Das Jacket hat er längst ausgezogen, das schweißnasse Hemd klebt am Körper. Hiroaki Takenouchi sind die Strapazen anzusehen, doch der japanisch-britische Pianist ist glücklich. „Das Publikum hier dürfte weltweit das einzige sein, bei dem ich mich für ein solches Programm nicht entschuldigen muss“, sagt er mit einem Lächeln.
Und tatsächlich gab es gerade im Rittersaal des Schlosses vor Husum (das tatsächlich mitten in Husum liegt) großen Applaus für Werke von Percy Sherwood, Dorothy Howell, Marcel Dupré und Nikolai Medtner. Nie gehört? So dürfte es den meisten gehen, die rund ums Jahr immer mal wieder ein Klassikkonzert besuchen. Aber hier in Husum ist alles anders.
Pianistin sind auf der Suche nach Raritäten
Beim Festival „Raritäten der Klaviermusik“ ist der Name Programm und keine Noten-Ausgrabung zu abseitig. Im Gegenteil: Das Interesse der Pianophilen, die in jedem Sommer aus aller Welt in die vermeintlich „graue Stadt am Meer“ reisen, gilt gerade nicht Bach und Beethoven, Mozart und Chopin, also dem, was überall und immer wieder zu hören ist. Wer hierher kommt, manche schon seit dem Gründungsjahr 1987, den treibt eine unbändige Entdeckerlust, die Sucht nach immer Neuem.
Das gilt auch für den Bayern Ludwig Madlener. Der studierte Altphilologe und pensionierte Lehrer gehört sozusagen zum Festival-Inventar. Nicht nur, weil er seit etwa zehn Jahren den Verkaufstisch mit hunderten CDs betreut, sondern auch wegen seiner Sammelleidenschaft. Der 81-Jährige hat in den vergangenen Jahrzehnten die Noten von mehr als 60.000 Klavierstücken zusammengetragen, hinzu kommen weit mehr als 1000 Klaviertrios, -quartette und -quintette.
Wenn eine Pianistin oder ein Pianist auf der Suche nach Raritäten ist, führt an Madlener kaum ein Weg vorbei. Er selbst spielt auch („Sofern es meine alten Knochen noch zulassen“), aber für ihn ist die Klaviermusik kein Beruf, sondern eine Berufung. Deshalb hat er „nebenbei“ ein 350-seitiges Standardwerk zum Pianisten und Komponisten Leopold Godowsky vom Englischen ins Deutsche übersetzt – ohne einen Cent dafür zu bekommen. „Ich wollte einfach meine Synapsen in Schwung halten“, sagt Madlener und grinst.
Nadejda Vlaeva ist schon mehrfach bei den „Raritäten“ aufgetreten
Es sind diese positiv Verrückten, die das Rückgrat des Festivals bilden, das Peter Froundjian vor fast 35 Jahren aus der Taufe hob. Auch er ist ein Überzeugungstäter und beim Gespräch zwischen zwei Konzerten im sonnenbeschienenen Schlosshof lässt der Berliner an seiner Haltung keinen Zweifel: „Ein Festival sollte man nur veranstalten, wenn man wirklich etwas zu sagen hat“, findet er. „Welchen Sinn ergibt es, im Sommer Programme zu spielen, die im Frühjahr schon überall in den Konzerthäusern zu erleben waren?“
Nun, in dieser Hinsicht besteht in Husum keine Gefahr. Wenn hier tatsächlich mal ein Schubert- oder Liszt-Stück erklingt, dann garantiert in einer Bearbeitung, die anderswo so gut wie nie zu hören ist. Eine „lustvolle Weiterbildung“ sei dieses Festival, und auch wenn es coronabedingt 2020 erstmals ausfallen musste, auch wenn die ganz besonders treuen Fans aus Singapur, Japan und den USA zur diesjährigen Ausgabe nicht kommen konnten: von Resignation keine Spur. Weder bei Froundjian noch bei denen, die nicht etwa für einzelne Konzerte anreisen, sondern gleich die komplette Festivalwoche in Husum bleiben.
Eine von ihnen ist Nadejda Vlaeva, gebürtige Bulgarin, die inzwischen in New York lebt und selbst schon mehrfach bei den „Raritäten“ aufgetreten ist. In diesem Jahr spielt sie nicht – und ist dennoch da, vom ersten bis zum letzten Konzert. Gerade hat sie eine CD mit Stücken ihres Landsmanns Pancho Vladigerov (1899-1978) veröffentlicht, eine Aufnahme fast ausschließlich mit Welt-Ersteinspielungen, die von „Gramophone“, dem international wichtigsten Klassikmagazin, enthusiastisch gelobt wurde.
Auch Neulinge finden in Husum schnell Anschluss
In Husum stellt sie einen Pappkarton voller CDs à 15 Euro auf den Verkaufstisch von Ludwig Madlener – für die anwesenden Sammler auf Beutezug eine große Freude. „Ich bin natürlich wegen der Musik hier, aber auch, um das Festival mit meiner Anwesenheit zu unterstützen“, sagt die Mittdreißigerin. Für sie als Künstlerin seien die „Raritäten“ jedenfalls ein Traum. Sicher, in Deutschland stehe man der klassischen Musik so nah, wie nirgendwo sonst auf der Welt, aber normalerweise wünsche sich das Publikum eben doch etwas Bekanntes, etwas, woran es sich festhalten könne. „Das ist hier ganz anders.“
Anders als bei Konzerten in Elbphilharmonie oder Laeiszhalle ist in Husum auch das Verhältnis der Besucher untereinander. Viele Freundschaften sind schon in diesen Augusttagen entstanden, man freut sich auf die bekannten Gesichter, die man ein Jahr lang nicht gesehen hat. Aber auch Neulinge sind schnell integriert: Bereits ein „Seit wann kommen Sie her?“ reicht als Auftakt für lange Gespräche, die nach den Konzerten gern im nur drei Gehminuten entfernten „Brauhaus“ fortgesetzt werden.
Dahin zieht es an diesem lauen Sommerabend auch Hiroaki Takenouchi und Peter Froundjian, die beide wissen, dass die „Raritäten der Klaviermusik“ zwar niemanden reich machen. Aber viele sehr glücklich.
Das Festival im Netz: piano-festival-husum.com
Weitere Konzerte, CDs und mehr
An diesem Sonnabend gehen die „Raritäten der Klaviermusik“ zu Ende, doch vor der nächsten regulären Ausgabe im August 2022 gibt es erstmals zusätzlich die „Six petits concerts“: sechs Konzerte an Pfingsten (3. bis 5. Juni 2022). Wer dabei sein möchte,
muss sich beeilen, unter piano-festival-
husum.com sind nur noch wenige Tickets erhältlich.
Das dänische Label Danacord veröffentlicht seit dem Festivalauftakt 1987 jährlich eine CD mit den Höhepunkten des vergangenen Jahres. Die „Rarities of Piano Music at Schloss vor Husum“ betitelten Aufnahmen kosten zwischen 15 und 20 Euro.
Anlässlich des 25. Festival-Jubiläums ist 2011 das Buch „Jenseits des Mainstreams“ (Staccato Verlag, 240 Seiten, 22,80 Euro) erschienen. Die Festival-DVD „Pianocrazy“ kann bei der Stiftung Nordfriesland (T. 04841-89730) bestellt werden.