Hamburg. Ein Gespräch mit dem bekannten Bariton über Schubert-Lieder, Südtirol, sein Selbstverständnis und das Kochen.

Schon durch die nicht ganz klare Zoom-Leitung ist nach wenigen Worten klar: Mit dieser Stimme kann dieser Mann nur Opernsänger sein. In Hamburg war er im „Don Giovanni“ zu hören, im letzten Sommer wurde er bei den Salzburger Festspielen gefeiert, er hat Schuberts „Schöne Müllerin“ aufgenommen und ist der Figaro in einer Mozart-Produktion, die Thomas Hengelbrock gerade in Aix-en-Provence präsentierte. Ein Gespräch mit dem Bariton Andrè Schuen über Schubert-Lieder, Südtirol, sein Selbstverständnis und das Kochen.

Sind sie als Bariton neidisch auf die Tenöre, weil die die höheren Töne haben?

Andrè Schuen: Nein, eigentlich überhaupt nicht. Das soll jetzt nicht eingebildet klingen, aber ich habe fast die gleichen hohen Töne und darf in Vorstellungen in meiner Rolle entspannter sein, entspannter singen. Die hohen Töne singe ich dann unter der Dusche.

Wäre Ihnen eine lange oder eine steile Karriere lieber?

Andrè Schuen: Gute Frage… Eine steile eher nicht, da gehe ich davon aus, dass sie unnatürlich gepusht wird. Eine Stimme braucht Zeit, um sich zu entwickeln. Ich hätte gern eine glückliche Karriere.

Sie sind Ladiner, also eine Art Spezial-Südtiroler?

Andrè Schuen: Ich bin Südtiroler ladinischer Muttersprache. Wir stellen ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung.

Sie sind nur ungefähr zwölf Handvoll, etwa 35.000 Menschen. Ist das schon so speziell, dass Sie, aus Tal A, jemanden, der aus Tal B stammt, schon gar nicht mehr verstehen können?

Andrè Schuen: Wir haben keine Hochsprache, verstehen uns untereinander aber ziemlich gut. Hin und wieder muss man etwas besser zuhören, doch das geht.

Der andere Südtiroler, der mir sofort einfällt: Markus Lanz. Der kommt aus Bruneck, 30 Kilometer von dem Ort entfernt, aus dem Sie stammen. Kennen Sie sich, ist der in Ihrer Region weltbekannt?

Andrè Schuen: Ich kenne ihn nur aus dem Fernsehen. Zwischen seinem und meinem Geburtsort liegt eine Bergkette.

Angeblich sind Sie in einem Mühlhaus groß geworden, mit einem Bach nebendran. Das wäre natürlich – weil Sie Schuberts Liederzklus über die „Schöne Müllerin“ aufgenommen haben – ganz reizend. Ist das wirklich wahr oder soll ich das nur glauben?

Andrè Schuen: Nein, das ist wirklich wahr. Mir wurde das auch erst nach einigen Interviews zu diesem Projekt richtig bewusst. So viele haben nachgefragt, ob es nicht komisch wäre, als Mensch von heute über solche Dinge zu singen, über Blümlein und das Bächlein. Für mich ist das eine wirklich völlig normale Sache. Ich bin da aufgewachsen. Wir haben jetzt keine Mühle mehr, aber es war eine. Für mich war die Natur von klein auf um mich herum und ganz normal.

Wie kommt man dann aus so einem beschaulichen Örtchen – abgesehen von der Bahn - ans Mozarteum nach Salzburg?

Andrè Schuen: Musik und Singen sind bei uns sehr wichtig, bei der ganzen Bevölkerung. Wenn man am Nachmittag irgendwo einkehrt, passiert es schnell, dass jemand sagt: Komm, wir singen ein ladinisches Lied. Dann singen die Dorfbewohner, relativ gut, vierstimmig. Mein Vater war Kapellmeister im Dorf und Musiklehrer, er unterrichtet steirische Ziehharmonika. Wir haben in der Familie Musik gemacht, ich habe Cello gelernt und meine beiden Schwestern Violine. Es war von vornherein klar, dass Musik für uns die größte Rolle spielt. Dass ich zum klassischen Gesang kam, war eher Zufall. Irgendwann habe ich entdeckt, dass Singen mir noch mehr Spaß macht. Aber der ursprüngliche Plan war, Cello zu studieren. Dann habe ich spontan auf Gesang umgestellt und bin da hängen geblieben.

Die nächste Geschichte: Bei der Aufnahmeprüfung sollen Sie Schuberts „Müllerin“ gesungen haben, mit der Naturstimmme, und ohne vorher eine ordentliche Gesangsstunde gehabt zu haben.

Andrè Schuen: Eine klassische Stunde gab es vorher nicht. Natürlich habe ich vorher in Kinder- und Jugenchören gesungen…

… also wirklich: reingegangen, vorgesungen, angenommen?...

Andrè Schuen: … Mit Stimmbildung habe ich am Mozarteum angefangen. Das ist tatsächlich so…

… und im ersten regulären Liederabend angeblich gleich Schuberts „Winterreise“ gesungen. Ein bisschen wie Marathon ohne Aufwärmen, dafür braucht es schon ein gewisses Ego.

Andrè Schuen: Stimmt, das war der erste professionelle Auftritt. Man kann es aber auch so sehen: Das habe ich während des Studiums am besten erarbeitet. Es macht ja auch Sinn, sich da an große Werke heranzuwagen.

Meine Stichworte dazu, auf meinem Fragenzettel: Waren Sie so selbstsicher? Oder waren Sie nur so unerfahren?

Andrè Schuen: Ich würde mich eher als relativ vorsichtigen Menschen sehen. Diese „Winterreise“ mag vielleicht dagegen sprechen – aber ich habe jahrelang daran gearbeitet und das nicht nur einfach aus dem Ärmel geschüttelt.

Bei welchem Auftritt – Konzert, Oper, Liederabend, wo auch immer – haben Sie gemerkt, dass dieser Beruf der richtige für Sie ist?

Andrè Schuen: Das ist immer ein Auf und Ab. Grundsätzlich tendiere ich dazu, etwas zu sehr zu zweifeln, ob gut ist, was ich mache. Ob das überhaupt Sinn hat, ob die Stimme gut ist, wie das im Publikum ankommt. Mittlerweile habe ich es geschafft, manchmal in einen Flow zu kommen, bei dem die Zweifel etwas in den Hintergrund rücken. Das empfinde ich als sehr positiv. Das Allerwichtigste ist, dass man mit Spaß und Leidenschaft an die Sache herangeht. Das überträgt sich auf das Publikum.

Klingt nicht so, als ob Sie jedesmal und unbedingt der erste wären, der an der Bühnentür steht und fragt: Wann geht’s hier endlich los? Sie müssen sich sicher auch mal überwinden.

Andrè Schuen: Immer wieder. In den letzten Jahren habe ich es geschafft, auf einen ganz guten Weg zu kommen. Ganz ehrlich: Es hat Konzerte gegeben, bei denen es sich anfühlte, als würde ich zu meiner eigenen Hinrichtung schreiten. Lampenfieber kenne ich sehr, sehr gut. Das sind Gedanken, die man bearbeiten muss und auch bearbeiten kann. So schafft man Voraussetzungen, um überhaupt auf der Bühne funktionieren zu können. Dann kommt erst alles andere drauf: das Künstlerische, das Stimmtechnische. Das sind Prozesse, die man mitmachen muss.

Also braucht es mehrere Spielzeiten, um zu wissen, dass man auch an schlechteren Tagen halbwegs lebend durchkommen kann?

Andrè Schuen: Das stimmt. Wobei: Bei mir war es gar nicht so sehr am Anfang so. Oft schlägt Lampenfieber dann zu, wenn man es am wenigsten erwartet. Hier in Aix, wo ich den Figaro singe, ist es so, dass ich vom Kopf her selten so entspannende Vorstellungen hatte. Nervosität ist im Moment kein Thema. Wird schon wieder kommen, das weiß ich auch, doch im Moment genieße ich, dass ich mit positiver Energie auf die Bühne gehen kann.

Apropos Wichtigkeit der Aufgabe: Wir waren beide im letzten Sommer in Salzburg, ich vor der Bühne, Sie davor, bei der „Così fan tutte“, die extra wichtig war, als Signal der Festspiele, was trotz Corona möglich ist. Die Stimmung im Saal war unglaublich. Sind Sie im Ensemble zu einer Schicksalsgemeinschaft fürs Leben geworden? Haben Sie schnell gemerkt, dass Sie da etwas ganz Besonderes tun?

Andrè Schuen: Die Signalwirkung habe ich nicht so sehr gespürt. Aber die ganze Produktion war einfach ein Glücksfall, auf eine Art magisch.

Und nach der letzten Aufführung haben sich alle Mitwirkenden ein Mozart-Tattoo als Andenken stechen lassen?

Andrè Schuen: Nein, das wäre etwas zu viel gewesen.

Fallen Sie nach derartigem Stress komplett erschöpft in die Garderobe – oder kommen Sie noch stundenlang wie ein Duracell-Hase nicht zur Ruhe?

Andrè Schuen: Eher zweiteres. Die Stunden danach ist an Schlafen nicht wirklich zu denken. Gestern hatte ich hier in Aix Vorstellung, wir fangen um 21.30 Uhr an und sind um 1.30 Uhr fertig. So krass habe ich das noch nie gehabt. Vor vier Uhr kann ich dann nicht schlafen.

Dirigent dieses „Figaro“ ist der Ex-NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock,  mit seinen Balthasar-Neumann-Ensembles. Wie ist die Arbeit mit ihm? Toll, anstrengend?

Andrè Schuen: Wir arbeiten zum ersten Mal miteinander und es ist sehr spannend. Bei den Proben hat er anfangs nur viel beobachtet und zugehört. Er ist ein Philosoph am Dirigentenpult. Das hat mir sehr gefallen. Wenn er nach den Proben etwas zu uns gesagt hat, waren das immer Worte, die mich positiv motiviert haben. Das schaffen nicht so viele.

In einem „Asterix“-Band heißt es: Je schlechter das Essen, desto besser die Armee. Auf Probenarbeit bezogen: Benötigen Sie eine gewisse Dauer-Reibung mit Regisseur und Dirigent, um produktiv voranzukommen?

Andrè Schuen: Grundsätzlich bin ich relativ konfliktscheu. Und ich in sehr froh, wenn es nicht mehr alte Weise abläuft, mit Schrei-Attacken und Cholerikern. So etwas brauche ich überhaupt nicht. Mit Angst und Schrecken kommt man nicht zu einem guten Produkt. Es gibt immer noch Regisseure, die glauben, dass man einen Darsteller erstmal „brechen“ muss, um ihn zu künstlerischer Hochleistung zu bringen. Kompletter Blödsinn. Einen Darsteller muss man aufbauen.

Ein anderer Mozart war Ihr „Don Giovanni“ hier in Hamburg, inszeniert von Jan Bosse. Da haben Sie - meiner Meinung nach – zum Ende hin und überhaupt so einiges gerettet. Bei der Wiederaufnahme sind Sie nicht mehr dabei. Fanden Sie das damals alles in Ordnung? Und wie fühlte es sich an, Teil einer Produktion zu sein, die über eine 3- eher nicht herauskommt?

Andrè Schuen: Sagen wir es mal so: Eine Opern-Inszenierung ist immer ein Wagnis, man weiß nie, wohin sie führen wird. Beim Konzeptionsgespräch kann sich alles super anhören – und es funktioniert am Ende überhaupt nicht, aus sehr vielen Gründen. Und umgekehrt aber auch.

Was ist für Sie das Schöne am Liedgesang? Man macht sich ja wahnsinnig viel „nackter“ als bei einer Oper, in der man einer von mehreren ist. Lied ist anstrengend, man braucht mehr Mut.

Andrè Schuen: Für Liedgesang brennt mein Herz vielleicht ein bisschen mehr. An der Arbeitssituation gefällt mir sehr, dass man als Sänger und Pianist, zusammen im Duo, selbst entscheiden kann, wie man was interpretiert. Dann ist es auch authentisch. Es gibt niemanden, der sagt: nein, das gehört so oder anders. Aber das ist natürlich nicht der primäre Grund, warum ich Liedgesang mag. Die Musik an sich und die Poetik sind wichtigere Gründe.

Wäre ich Liedsänger, was ich gottseidank nicht bin: Ich hätte immer Angst vor Schubert. Weil das sehr nah geht, sehr offen ist und auch erschütternd. Man kann sich da so gar nicht verstecken. War das für Sie je ein Problem?

Andrè Schuen: Genau das ist das Tolle daran. Alles, was man bei Schubert „interpretiert“, im Sinne von dezidierter stimmlicher Darstellung, ist eigentlich schon fast zu viel.

Haben Sie in der Vorbereitung auf die „Schöne Müllerin“ alles und jeden anderen Interpreten komplett durchgehört oder wollen Sie davon nichts wissen?

Andrè Schuen: Ich höre mir alles an, was ich finde. Aber nicht, um meine Interpretation daraus zu basteln; das mache ich alles noch, bevor ich das Werk auf der Bühne singe.

Können Sie es längere Zeit ohne die vertrauten Berge aushalten?

Andrè Schuen: Ich habe mich daran gewöhnt, mittlerweile. Aber es hat Zeiten gegeben, in denen ich beim Anblick der Berge meiner Heimat oder bei ladinischen Sagen und Mythen ganz melancholisch wurde. Momentan hat sich das zum Glück etwas gelegt.

Sind Sie inzwischen der weltbekannteste Ladiner oder gibt es noch andere, ähnlich erfolgreich?

Andrè Schuen: Menschen, die sich für klassische Musik interessieren, werden mich vielleicht kennen, aber das ist wirklich nicht so. Es gibt einige relativ bekannte Ladiner und einen sehr bekannten: Giorgo Moroder.

Ist nicht wahr. Südtiroler wusste ich, aber der kommt genau aus Ihrer Gegend?

Andrè Schuen: Ja, ein Grödener Ladiner. Aber ich denke, auch der kann noch unerkannt durch ladinische Tale wandern. Es gibt bei uns nicht diesen Star-Faktor. Die Menschen machen eher ihr Ding, das finde ich auch gut so.

Sie sagten einmal: „Ich habe das Gefühl, dass ich nicht ganz in die Opernwelt gehöre.“ Dafür hat aber bislang sehr viel geklappt.

Andrè Schuen: Ja, das stimmt. Aber ich habe auch sehr viel daran gearbeitet, mich wohlzufühlen. Und es hängt auch mit meiner Herkunft zusammen. Wenn man aus einem kleinen Dorf kommt und so aufwächst, dass man einem handfesten Beruf nachgeht und nur nicht zu groß träumen – diese Mentalität ist schon drin. Und dann wird man Opernsänger, ist ständig weg von zuhause und tritt vor sehr vielen Menschen auf – damit muss man erstmal klarkommen. Ich bin grundsätzlich nicht der Typ, der diesen Job macht, um vor Menschen aufzutreten. Das ist für mich nicht der primäre Grund…

… sondern?...

Andrè Schuen: … die Musik und das Singen an sich. Es gab viele Momente, in denen ich dachte: Ob das was für mich ist? Ich bin mir nicht sicher. Oft habe ich auch gedacht, ich höre auf. Aber wenn ich konkret nachdachte, kam ich immer wieder auf den Punkt: Musik und Singen, das ist für mich einfach das Schönste auf der Welt. Und wenn das so ist, was bleibt mir dann anderes übrig? Es ist meine Leidenschaft, da ist manchmal auch etwas Leiden dabei. Ich glaube, ich habe einen guten Weg gefunden und meine innere Balance ist dem Beruf gegenüber sehr positiv. Im Moment bin ich sehr glücklich.

Müssen Sie sich regelrecht zwingen, groß zu träumen?

Andrè Schuen: Es gibt Träume, Gedanken daran, was vielleicht möglich ist, aber das sind keine Ziele. Und ich habe eine sehr gute Agentur, die ausgleicht, was ich eben nicht mache. Es würde für mich absolut keinen Sinn machen zu sagen: Ich will in zehn Jahren Wotan an der Met singen oder in Bayreuth oder wo auch immer. Man muss sehen, wohin sich die Stimme entwickelt.

Aber so ziemlich jeder Knirps mit einem Fußball sagt sich: Ich will Weltmeister werden. Und jeder Sänger sagt sich doch bei einem Foto der Met: Da will ich rein, und wehe, das klappt nicht.

Andrè Schuen: Ja, aber es ist eben die Frage, ob man damit leben kann, wenn das nicht passiert.

Beim „Ö1 Küchenradio“ haben Sie sich mit einem Rezept für Salsiccia-Risotto mit Weißweinreduktion verewigt. Betreiben Sie das leidenschaftlich?

Andrè Schuen: Das ist eigentlich mein größtes Hobby. Wenn ich unterwegs bin und habe nicht alles da, ist es etwas schwieriger. Zuhause koche ich gern und auch aufwendiger.

Und Nehmen eine Kiste mit dem Nötigsten mit auf die Reisen?

Andrè Schuen: Noch nicht, aber ich überlege das schon seit einigen Jahren.

Wie endet für Sie der Satz: „In zehn Jahren bin ich…“?

Andrè Schuen: … immer noch glücklich.

Aufnahme: „Die schöne Müllerin“ mit Daniel Heide (Klavier) (DG, CD ca. 15 Euro). DVD: „Così fan tutte“ Salzburger Festspiele 2020, dirigiert von Joana Mallwitz (Erato, ca. 17 Euro)

  • Aufnahme: „Die schöne Müllerin“ mit Daniel Heide (Klavier) (DG, CD ca. 15 Euro).
  • Stream: 20.8. 20.30 Uhr, www.arte.tv. Dort ist auch die „Le Nozze di Figaro“-Inszenierung aus Aix zu sehen, dirigiert von Thomas Hengelbrock.