Hamburg. Drei ganz unterschiedliche Produktionen erkunden ein verlassenes Warenhaus, eine Kirche – und das Theater selbst. Eine Kritik.

Der leere Ort ist seiner Funktion beraubt. Kabel baumeln aus den Decken, ein Leuchtschild verspricht noch „Wolle und Garne“. Aber konsumieren kann man in diesem verlassenen Warenhaus an der Mönckebergstraße, bis vor wenigen Monaten „Galeria Kaufhof“, gar nichts mehr. Oder: fast nichts, denn für das Internationale Sommerfestival (und mitfinanziert vom Kultursommer Hamburg) hat sich die Gruppe LIGNA des geschichtsträchtigen Ortes in Hamburgs Innenstadt angenommen und schleust noch bis zum 22. August kleine Zuschauergrüppchen ins halbdunkle Untergeschoss.

Wie ein Haufen stummer Zombies geistert das Publikum durch den Raum, „Die Gespenster des Konsumismus“ auf den Ohren. Per Kopfhörer führen Stimmen (Samuel Weiß, Julia Nachtmann und Thomas Niehaus) durch einen Teil des Klöpperhauses, laden auf Ausstellbetten, fordern mal zum Klauen und mal zur Rebellion auf („Macht kaputt, was euch kaputtmacht“), erkunden die Historie und stellen kluge Fragen nach Eigentum, Stadtentwicklung, sozialen Verhältnissen damals, heute und morgen. Der Audiowalk hält verschiedene Rollen bereit, den roten Faden muss man selbst entwirren.

Kampnagel-Sommerfestival kann auch sakral

Auch in der neugotischen Architektur von St. Gertrud schweben Stimmen ins Halbdunkel, eine wundersam virtuos gebaute Klang-Architektur. Selbes Sommerfestival, andere Veranstaltung, ganz andere Stimmung. „Total sonderbar“ und „bizarr“ sei die Musik, hatte hier der Chorleiter Björn Schmelzer vorab versprochen. Vollkommen unbekannt, so schnell würde man diese Ausgrabungen garantiert nicht wieder zu hören bekommen.

Graindelavoix, das überragend eigenwillige Alte-Musik-Vokalensemble aus Antwerpen, hatte für sein Hamburg-Debüt Sakrales der Renaissance-Engländer John Browne und Thomas Ashwell mitgebracht, das rätselhaft und anrührend ins frühe 16. Jahrhundert versetzte. Musik, die sich in Gotteslob und sanfter, ruhiger Anmut verlor, ist zu hören, leidend, hoffend und an die Vergänglichkeit alles Seins mahnend. Ein Salve Regina, eine Marienmesse mit einer spätmittelalterlichen Kyrie-Vertonung als Auftakt, ein Stabat Mater, ein Stück so reich aufblühend wie das nächste. Das Kamp­nagel-Sommerfestival kann also auch mal ganz anders als hip und heutig – bis ein letztes „Amen“ dann doch das Zurück ins Jetzt verkündet.

Kampnagel-Bühne ist ein Hingucker

Musikalisch und zudem äußerst sprachmelodisch kommt Christoph Marthalers „Das Weinen (Das Wähnen)“ gleichzeitig auf Kampnagel, also im Festival-Hauptquartier, daher. Obwohl es im Grunde um Endlichkeit geht und mehrfach auch das „Lacrimosa“ aus Mozarts „Requiem“ erklingt, gerät dieser Abend zu einer Feier des Lebens, dem Besucher ist eher zum Lachen als zum Weinen zumute. Das liegt zuerst an den herrlich wortakrobatischen Dada-Texten des Allround-Künstlers Dieter Roth, bekannt vor allem für seine Gewürz-, Schimmel- und Schokoladen-Objekte. Aber auch am wunderbaren fünfköpfigen Frauenensemble, dessen verschworene Pharmazeutinnen-Gemeinschaft hin und wieder die Gegenwart eines meist schweigsamen Mannes durchbricht.

Schon Duri Bischoffs Bühne ist ein Hingucker. Eine detailliert gestaltete Apotheke, in der Verkaufsrubriken wie „Nerven“ oder „Drüsen“ vorkommen. Heilung versprechen hier aber nicht Pillen und Opiate, sondern die tänzelnden, summenden und lustvoll Nonsens-Poesie häckselnden Weißkittel-Schwestern. Wenn sie verkünden, alles sei „zerkloppt, zertropft, vergangen, abgesahnt, Zahn!“ sollte man dahinter nicht allzu viel Sinnhaftigkeit vermuten. „Das Weinen (Das Wähnen)“ ist ein leichtfüßiger, Slapstick nicht scheuender Abend des Schweizer Meisters der Langsamkeit.

Ein Abend, drei Angebote, kein Fehlkauf. Wie apart doch das Konsumieren von Kunst sein kann.

Sommerfestival bis 22.8., kampnagel.de