Hamburg. Schriftsteller Matthias Politycki ist ausgewandert. Auf seine Kritik an Sprachgepflogenheiten antworten fünf Kolleg:innen aus Hamburg.

Jetzt lebt er in Wien, der Autor und Sprachmensch, der kritische Bürger und Immer-noch-jetzt-aber-anders-Linke Matthias Politycki („Weiberroman“, „Das kann uns keiner nehmen“). Eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes weg aus Hamburg, die er im Abendblatt erklärte: mit der ihn störenden Dominanz neuartiger „Wokeness“-Gedanken, Gender-gerechter Sprache und einer verkümmernden Diskussionskultur.

Das Abendblatt hat Hamburger Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach ihrer Meinung zu den von dem 66 Jahre alten Autor aufgebrachten Themen gefragt. Hier ist zu lesen, was sie über den Zeitgeist, Irrungen und Wirrungen denken.

Die Fragen

  • Frage 1: Matthias Politycki hat mehrfach den „woken“ Zeitgeist, das Gendern der Sprache und die Diskussionskultur kritisiert. Was sagen Sie dazu?
  • Frage 2: Ihr Kollege sagt, aufgrund von neu etablierten Sprachregelungen gehe es „auch in der Literatur bereits ans Eingemachte“. Er sieht „die Freiheit der Fantasie, die Freiheit des Gedankens und der Sprache tatsächlich bedroht“. Stimmt das aus Ihrer Sicht?
  • Frage 3: Fühlen auch Sie sich von der „Wokeness“-Bewegung bedrängt?
  • Frage 4: Wie nehmen Sie die Haltung der Literaturszene gegenüber identitätspolitischen Anliegen und möglichen Folgen für den Einsatz der Sprache wahr?
  • Frage 5: Ist das Thema Gender-gerechte Sprache ein vermintes Gelände, auf das sich viele Kulturschaffende nicht wagen wollen, oder erwarten Sie in Zukunft fruchtbare Diskussionen?
  • Frage 6: Ziehen Sie demnächst nach Wien?

Isabel Bogdan (53), Autorin des Bestsellers „Der Pfau“ und Übersetzerin:

Antwort zu Frage 1: Erst mal ganz kurz: locker machen.

Antwort zu Frage 2: Eine Erweiterung der Sprache schränkt die Freiheit der Fantasie ein? Im Gegenteil. Gerade werden ganz viele verkrustete Strukturen aufgebrochen, es entsteht etwas Neues, das ist doch wunderbar. Wir Schreibenden bekommen neues Spielzeug! Und es ist gut und wichtig und richtig, dass gerade wir uns immer wieder vor Augen führen, wie viel Patriarchat, Kolonialismus, Herrschaftsdenken und so weiter in unserem alltäglichen Sprachgebrauch stecken, ohne dass es uns immer bewusst ist.

Isabel Bogdan empfiehlt: locker bleiben!
Isabel Bogdan empfiehlt: locker bleiben! © Roland Magunia | Roland Magunia

Es bedeutet natürlich, dass wir alle hier und da umdenken und uns an Neues gewöhnen müssen. Super, das hält das Gehirn fit. Und die Gedanken sind sowieso frei, niemand zwingt uns alle, irgendwelche Wörter zu benutzen oder nicht zu benutzen (man muss dann halt nur hier und da mit Kritik rechnen, aber das musste man schon immer). Übrigens sehe ich nicht mal „neu etablierte Sprachregelungen“.

Es wird gerade vieles ausprobiert und diskutiert. Solche Diskussionen fransen an den Rändern manchmal ins Absurde aus, das ist vollkommen normal. Ansonsten kann man entspannt selbst mit herumprobieren, welche Form des Genderns einem beispielsweise liegt, und mal abwarten, was sich am Ende etablieren wird. Ich finde es spannend, dabei zuzusehen.

Antwort zu Frage 3: Kein bisschen. Eher manchmal erwischt.

Antwort zu Frage 4: Vor ein paar Wochen gab es im „Börsenblatt“ des deutschen Buchhandels – der Verbandszeitschrift von Buchhandlungen und Verlagen – eine ganze Reihe mit Statements und Interviews zum Thema Gendern mit verschiedenen Leuten aus allen Bereichen des Literaturbetriebs. Der Grundtenor war eindeutig: Ja, da passiert gerade was, wir probieren alle herum, es entwickelt sich etwas, wir beobachten das mit Spannung und Neugier und sind selbst noch nicht ganz fertig mit Denken.

Antwort zu Frage 5: Es gibt bei diesem Thema, wie bei allen anderen Themen auch, Extrempositionen. Und es gibt und gab immer wieder fruchtbare und kon­struktive Diskussionen. Auch und gerade unter Kulturschaffenden.

Antwort zu Frage 6: Ich hoffe sehr, bald mal wieder nach Wien reisen zu können. Allerdings eher wegen der Mehlspeisen.

Mirko Bonné (56), Romancier („Seeland Schneeland“), Lyriker und Übersetzer:

Antwort zu Frage 1: Ich verstehe mich als Dichter, Erzähler und Übersetzer und schreibe mein Werk von Buch zu Buch weiter und mit jedem unter neuen Vorzeichen. Diese sind keine literarischen und auf keinen Fall politische, sondern poetische und folgen oder überprüfen Lektüren. Politische Äußerungen von Autoren und Autorinnen betrachte ich als verheerend und zumeist nutzbringend eingesetzt. Politisch äußere ich mich als Wähler im Rahmen der Verfassung, als Demonstrant gegen Unrecht und Herabwürdigung von Schwächeren und als Mitglied des PEN, dessen Charta ich unterzeichnet habe.

Mirko Bonné sieht sich als „wehrhafte Ein-Mann-Partei“.
Mirko Bonné sieht sich als „wehrhafte Ein-Mann-Partei“. © picture alliance

Antwort zu Frage 2: Falls dem so ist, bietet sich dadurch dem Schreiben ein Betätigungsfeld, auf dem diese Zeitströmung mit poetischen Mitteln reflektiert werden kann. Sprache erneuert sich beständig, sie ist ein lebendiger Organismus, von dem jeder und jede ein einzelnes gleichrangiges Teil ist und dieses Gefüge mitzugestalten Gelegenheit hat.

Antwort zu Frage 3: Ich bin eine wehrhafte Ein-Mann-Partei in Europa. Bedrängt zu werden gehört zu meinen Erfahrungen, seit ich denke und spreche. Dass ich immer noch wachse, dürfte auch damit zu tun haben.

Antwort zu Frage 4: Gar nicht, da ich gar nicht weiß, was mit Literaturszene gemeint ist. Einschränkungsversuchen setze ich poetisches Aufbegehren entgegen­, im besten Fall schöpferisch wie etwa mit meiner Neuübersetzung von Joseph Conrads Roman „The Nigger of the ‚Narcissus‘“, deren Titel „Der Niemand­ von der ‚Narcissus‘“ lautet.

Antwort zu Frage 5: Solange Sprache Sprechen und Gespräch bedeutet – und ich sehe da kein Ende –, ist jeder Austausch fruchtbar. Alte Unterdrückungen müssen enden, neuen muss etwas entgegengesetzt werden – und das wird der Fall sein.

Antwort zu Frage 6: Wenn meine Frau dorthin zieht, ja. Ohne meine Familie, die mein Zuhause ist, bin ich verloren. Aber nur dann.

Rainer Moritz (63), Autor („Mein Vater, die Dinge und der Tod“), Kritiker und Leiter des Literaturhauses

Antwort zu Frage 1: Was Matthias Politycki beschreibt, kann ich in mancher Hinsicht gut nachvollziehen. Es gibt Bestrebungen, die in guter Absicht, Minderheiten zu schützen oder für mehr Sprachgerechtigkeit zu sorgen, übers Ziel hinauszuschießen und Ambivalenz und Vielfalt im gesellschaftlichen Diskurs eher einschränken denn befördern.

Antwort zu Frage 2: Das scheint mir übertrieben, wenngleich es Tendenzen gibt, die als einzig richtig empfundene Haltungen oktroyieren wollen und beispielsweise die Literatur und Kunst der Vergangenheit nachträglich korrigieren und „verbessern“ wollen. Das ist oft Anmaßung und Weltverbesserungsabsicht auf Nebenschauplätzen.

Antwort zu Frage 3: Nicht bedrängt, sondern mitunter verärgert.

Rainer Moritz ist mitunter verärgert.
Rainer Moritz ist mitunter verärgert. © picture alliance

Antwort zu Frage 4: Auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller zeigen in diesem Punkt ein erstaunliches Desinteresse an sprachgeschichtlichen Aspekten und huldigen sprachlichen Formen, die mit dem, was in der breiten Bevölkerung vor sich geht, wenig zu tun haben. Und gleichzeitig schließen sich viele diesen Sprachregulationsversuchen blind an – um ja nicht als unfortschrittlich zu gelten. Den Sprachgebrauch politisch regulieren zu wollen, das steht für eine ungute Tradition.

Antwort zu Frage 5: „Wer gendert, ist lieb und links“, hat die Linguistin Ewa Trutkowski vor einiger Zeit gesagt. Intellektuelle sollen reflektieren, ehe sie diesem Trend unbesehen folgen. „Gut gemeint“ führt schon in der Kunst selten zu überzeugenden Ergebnissen.

Antwort zu Frage 6: Auf gar keinen Fall.

Katharina Hagena (53), Autorin des Beststellers „Der Geschmack von Apfelkernen“:

Antwort zu Frage 2: Zunächst: In der Literatur geht es immer ans Eingemachte, das ist das Wesen der Literatur. Dennoch: Ich verstehe Matthias Politycki durchaus. Auch mich beschäftigt und beunruhigt die Frage, ob es Dinge gibt, über die ich als weiße alte Frau, also letztlich einfach aufgrund meiner biologischen Beschaffenheit, nicht schreiben „darf“. Können Männer über die Erfahrungen von Frauen, Heterosexuelle über Homosexuelle, Weiße über Schwarze schreiben, ohne dass dies als ein Akt der Aneignung und damit der Gewalt betrachtet werden muss?

Katharina Hagena will Matthias Polityckis neues Buch lesen.
Katharina Hagena will Matthias Polityckis neues Buch lesen. © Roland Magunia | Roland Magunia

Ich glaube schon – wenn man dabei die eigene Position gut im Blick hat und sich nicht aus der Verantwortung stiehlt. Dass die eigene Identität ständig geklärt werden muss, dass überhaupt immer alle Identitäten geklärt sein müssen und dass für alle Identitäten irgendwelche Regeln zu gelten scheinen, finde ich ermüdend und fragwürdig, denn das bedeutet immer eine Reduktion. Und an welchem Punkt schlägt Schutz um in Zensur?

Antwort zu Frage 3: Bedrängt nicht, genervt manchmal. Ich finde es grundsätzlich gut, über Gerechtigkeit und Freiheit nachzudenken – gerade auch in der Sprache. Und diese „Bewegung“, na ja, dieser Trend, sorgt insgesamt für weniger Gedankenlosigkeit - auch bei mir selbst. Das begrüße ich. Doch es gibt einen Punkt, an dem es mir nichts mehr bringt, über irgendetwas nachzudenken, wenn immer ein paar selbst ernannte Schiedsrichter*innen irgendwo stehen und enge Grenzen definieren. Kunst braucht nun einmal Spielraum. Und sie überschreitet Grenzen.

Antwort zu Frage 4: Es gibt natürlich keine „Haltung der Literaturszene“. Es gibt nur eine Vielzahl von Schriftsteller*innen, die eine Vielzahl von Ansichten und Empfindungen haben. Ich unterstütze die Forderung nach einer gendergerechten Sprache und versuche, so weit es geht und wenn ich daran denke, im Alltag zu gendern. Doch wenn es nach meinem Empfinden nicht geht, dann gestatte ich mir, es nicht zu tun. Gendern geht auf Kosten der Klarheit und des Leseflusses. So wichtig ich es finde, über Genderpolitik nachzudenken, so wichtig finde ich es, sich auch mal nicht mit Genderpolitik, sondern mit anderen Dingen auseinanderzusetzen.

Denn bisweilen grätsche ich mir selbst mit den Endungen, Schrägstrichen und Sternchen in meinen eigenen Gedankengang. In offiziellen Briefen und Ansprachen, in Formularen, juristischen und vielen wissenschaftlichen Texten stört mich das Gendersternchen aber überhaupt nicht, im Gegenteil: Wer bin ich, dass ich mir anmaße zu entscheiden, was andere verletzen darf oder nicht? Und ästhetische Bedenken zählen sowieso nicht bei Gattungen, in denen es etwa Abkürzungen, Schrägstriche und/oder ähnlich funktionelle Textelemente schon immer gab. In einem literarischen Text ist das anders.

Literatur muss bekanntlich nicht moralisch sein, sondern besitzt, wie Salman Rushdie sagt, „the freedom to piss people off“. Wenn diese Freiheit aufgrund von Angst vor Hetze, Shitstorms und öffentlichem Anprangern gefährdet wird, so ist das erschreckend und traurig. Ich gendere in meinen literarischen Texten nicht. Wenn ich aber einen Artikel lese, der sich vehement gegen das Gendern wendet, werde ich gleich wütend und habe das Gefühl, der/die Autor*in hat Angst, dass man ihm/ihr etwas wegnimmt, auf das er/sie irrigerweise glaubt, ein Anrecht zu haben.

Wenn ich wiederum Menschen zuhöre, die total woke sind und immer das Richtige denken, sagen und fühlen, alles konsequent durchgendern und stets darauf bedacht sind, dass alle immer safe und in geschützten Räumen sind, kriege ich sofort Zuckungen und möchte touretteartig schlimme Dinge rufen wie „generisches Maskulin!“ oder „Pippi in Taka-Tuka-Land!“. Das Dilemma der Identitätspolitik bleibt für mich unauflöslich.

Antwort zu Frage 5: Ich glaube tatsächlich, zum Gendern ist inzwischen genug gesagt worden – gerade auch von mir. Ohne ein befriedigendes Ergebnis oder eine elegante Lösung. Das heißt aber nicht, dass die Diskussionen davor unnötig oder unfruchtbar gewesen wären.

Antwort zu Frage 6: Wahrscheinlich nicht. Ich lese einfach Matthias Polityckis nächstes Buch.

Kirsten Boie (71), preisgekrönte Kinder- und Jugendbuchautorin:

Antwort zu Frage 1: Vieles finde ich klug und präzise beobachtet. Ich bin nur optimistischer als er. Ganz sicher müssen wir aufpassen, in welchem Ton wir miteinander und übereinander reden. Die Gnadenlosigkeit, mit der das auf sämtlichen Seiten manchmal passiert, erschreckt mich. Grundsätzlich denke ich aber, dass das Nachdenken etwa über das Gendern hoch spannend ist: Sprache ist immer ein Spiegel der Gesellschaft, und das bis in ihre grammatikalischen Strukturen hinein. Nach Jahrhunderten des Patriarchats gilt das für das Deutsche mehr als für viele andere Sprachen; das sogenannte „generische Maskulinum“, um das es jetzt so hitzig geht, ist ja nur ein Beispiel.

Kirsten Boie hofft auf fruchtbare Diskussionen.
Kirsten Boie hofft auf fruchtbare Diskussionen. © Indra Ohlemutz | Indra Ohlemutz

Und warum sollten wir, vor allem in der Anrede oder bei Sachtexten, nicht stattdessen zu einer Form greifen, die alle Geschlechter mitmeint? Den Doppelpunkt, Asterisk oder Unterstrich verwenden? Warum soll es schwieriger sein, das Wort Bäcker:innen auszusprechen als das Wort Bäcker-Innung? Vielleicht werden wir uns in einigen Jahren über diese Aufregung wundern. Ich probiere seit Langem vieles aus und finde es gut, dass genau das möglich ist. Und wenn Menschen eine andere Position vertreten, halte ich sie deswegen nicht gleich für den Antichrist. Gerade in Zeiten, in denen die Dinge sich wandeln, brauchen wir auf allen Seiten Toleranz.

Antwort zu Frage 2: Ich finde sie nicht falsch – nur sehr zugespitzt. Wenn man wie ich durch meine Möwenweg-Stiftung seit mehr als einem Jahrzehnt viel mit einem Land zu tun hat, in dem es keine Presse-, Rede- oder Meinungsfreiheit gibt und Menschen für ihre Äußerungen ins Gefängnis gehen, dann sieht man da doch einen gravierenden Unterschied – und erkennt, wie dankbar wir für unsere Situation sein können. Trotzdem trifft es mich als Autorin natürlich, wenn ich Shitstorms erlebe, weil in einem Kinderbuch ein Vater eine frauenfeindliche Äußerung tut, und nun unterstellt wird, das wäre die Haltung des gesamten Buches und der Autorin; wenn Figurendarstellungen als rassistisch gegeißelt werden, weil auch schwarze Menschen in meinen Büchern mal verrückte Dinge tun oder weil überhaupt von einer weißen Autorin über schwarze Kinder erzählt wird.

Antwort zu Frage 3: Nein, nicht im selben Maße. Aber da ich seit ungefähr einem Jahr zunehmend Mails, Postings, sogar wissenschaftliche Vorträge erlebe, die zum Teil recht willkürlich Einzelaspekte aus Büchern herausgreifen und attackieren – Figurenäußerungen, Gedanken einer Person, Erzählungen aus der Perspektive einer Figur –, merke ich schon, dass Wokeness ein Thema ist, das meine Planungen bewusst oder unbewusst beeinflusst. Denn natürlich frage ich mich nach jedem solchen Angriff automatisch: War er nicht vielleicht doch berechtigt? Sich so häufig in einer Verteidigungsposition zu finden ist schon auch belastend.

Antwort zu Frage 4: Im Kinder- und Jugendbuch-Bereich erlebe ich zum Beispiel, dass in Gruppen zum Teil wochenlang Strategien zum Umgang mit Shitstorms entwickelt werden, um von vornherein gewappnet zu sein. Da gibt es eine ziemliche Beunruhigung. Traurig fände ich, wenn darum von vornherein auf realistische Kinderbücher verzichtet würde, weil sie natürlich immer angreifbarer sind als Geschichten über Häschen und Bärchen.

Antwort zu Frage 5: Ich hoffe auf fruchtbare Diskussionen, bei denen sich alle Beteiligten mit Respekt begegnen und die Berechtigung der Argumente der anderen zumindest in Erwägung ziehen.

Antwort zu Frage 6: Nein. (Hamburg ist nun mal die schönste Stadt der Welt!)