Hamburg. Der estnische Musiker spricht über Ego-Größen, über die Musik von Brahms und Pärt, aber auch über Trump und Putin.

Auf der Beliebtheitsskala von Dirigenten schneidet Paavo Järvi weltweit bei Orchestern bestens ab. Der Este nimmt sich nicht wichtiger, als er ist, er weiß, was er will und wie er es bekommt. Liegt wahrscheinlich in der Familie, auch Vater Neeme und Bruder Kristjan sind Dirigenten. Beim Treffen in der Elbphilharmonie ist er die freundliche Ruhe selbst, und bleibt es auch, selbst als die Rede auf seine (optische) Verbindung zu Putin kommt.

Hamburger Abendblatt: Was war der beste Rat Ihres Vaters Neeme Järvi das Dirigieren betreffend?

Paavo Järvi: Das Dirigieren war zu Hause fast immer Thema, also steht sehr viel zur Auswahl. Aber die Erlebnisse mit Repertoire während meiner Kindheit waren die prägendsten. Das Dirigieren selbst war weniger wichtig, es kam mehr darauf an, was dirigiert wurde. Er war immer wieder begeistert von Musik, die nicht total bekannt war, es gab deswegen eine Art „Held der Woche“. Das konnte Glasunow sein, Hans Schmidt, Hans Rott ­…

Ihr Bruder ist Dirigent, Ihr Vater ist Dirigent, Ihre Schwester spielt Flöte …

Järvi: … der Bruder meines Vaters war Dirigent, viele Cousinen waren Musiker …

… und wer von Ihnen hat das kleinste Ego?

Järvi: Da müsste man erst mal klären, was „Ego“ bedeutet. Ich finde ein Ego total notwendig. Wenn wir über eine arrogante Haltung sprechen, dann glaube ich, dass niemand von uns die hat. Aber ein gewisses Gefühl von Vertrauen muss da sein, um vor 100 Menschen zu stehen und ihnen die eigene Vorstellung von einem Stück zu erklären. Gesundes Selbstvertrauen hilft – und wächst ein wenig mit Erfahrung. Ich hatte einen großartigen Lehrer am Curtis Institute, Max Rudolph, er war damals 90 und sagte immer tolle Sachen. Er sagte: Um zu wissen, wie talentiert man ist, muss man ein kleines bisschen Erfolg haben.

A propos Selbstvertrauen: Einer Ihrer Lehrer war Leonard Bernstein. Waren Sie während der ersten Stunden bei einem Charismatiker wie ihm nicht komplett verschreckt?

Järvi: Ich musste so zittern, dass ich meine Hände kaum noch unter Kontrolle bekam. Aber bei allen großen Geschichten über die überlebensgroße Gestalt Bernstein: Seine Art, mit Studenten umzugehen, war unglaublich ermutigend. Man stand zitternd da, und er sagte immer nur: „Ja! Ja! Das ist sensationell, Baby!“ Er sagte ständig „Baby!“, an jedem Satzende. Er war keiner dieser herablassenden, brutalen Lehrer, bei denen man durch Schmerzen lernen sollte. So einen hatte ich auch, in Curtis, Otto Werner Müller. Einer von uns fünf Studenten weinte immer. Wenn er auf einen losging, konnte er einen komplett zerstören. Bernstein konnte frustriert sein, sobald er das Gefühl hatte, man würde ihm nicht richtig zuhören. Wenn Bernstein etwas zu dir sagt, dann hörst du lieber genau hin.

Sie waren einmal Schlagzeuger. Viele Ex-Schlagzeuger gibt es nicht unter Dirigenten, sonderbarerweise. Als erster fällt einem Sir Simon Rattle ein.

Järvi: … Mein Vater war auch Schlagzeuger … Aber ich wollte nicht unbedingt Schlagzeuger werden. Das war nur eine Möglichkeit, um schneller in ein Orchester zu kommen. Selbst in schlechten muss man schon ein ziemlich guter Geiger sein, um aushelfen zu dürfen.

Wie lange hat es gebraucht, bis Sie tatsächlich wussten, was Sie auf der Bühne tun?

Järvi: Manchmal weiß ich das auch jetzt noch nicht. Gerade vor Kurzem erst, vor drei, vier Jahren, dachte ich: Ich weiß jetzt wirklich, wie man dirigiert. Ich weiß Bescheid. Und dann nimmt man sich ein Stück vor und fragt sich doch wieder: Wirklich? Und es gibt so viel, was man wissen muss, so viele Bereiche, über die man noch nicht genügend weiß. Ein Leben ist dafür nicht ausreichend. Mit den Bremern arbeite ich, anders als mit normalen Orchestern, an Projekten. Die Beethoven-Sinfonien haben wir jahrelang rauf- und runtergespielt: Zyklen in Paris, Japan, Deutschland, China ... Und wir haben jedes Mal wieder voll durchgeprobt. Diesen Luxus, sich so sehr in etwas zu vertiefen, haben nur sehr wenige.

Wenn Sie in einem Stück festgefahren sind – rufen Sie dann Ihren Bruder oder Ihren Vater an? Oder gibt es eine Art Berufsstolz, der davon abhält?

Järvi: Ich frage ständig nach Ratschlägen. Gott sei Dank habe ich einen Vater, der höchstwahrscheinlich einen besseren, direkteren Vorschlag hat als einige meiner Kollegen. Er ist da sehr offen und ehrlich. Jedenfalls verkneife ich mir nie das Fragen, weil ich zu stolz dafür wäre.

Früher oder später sagt einem jeder Dirigent, dass man sich in seinem Job von Routine fernhalten solle. Schönes Ziel, aber es geht nicht immer. Wie arrangieren Sie sich mittendrin mit einem mittelmäßigen Abend?

Järvi: Da sind wir wieder bei der Frage nach dem Ego. Ich denke so einfach nicht. Ich denke nie, das ist jetzt nur Routine. Ich lasse mir ein durchschnittliches Konzert nicht durchgehen. Man könnte sich auf Tourneen – in irgendeiner kleineren Stadt in Japan – ja auch sagen: Wir ziehen das jetzt durch, dann gehen wir essen. Aber da setzt der Stolz ein und man sagt sich, nein, wir geben ein ordentliches Konzert. Und genau deswegen verspüre ich auch nicht den Drang, dauerhaft an einem Opernhaus zu arbeiten. Da ist Routine meiner Meinung nach so gut wie unvermeidlich. Regelmäßig Oper zu dirigieren, das kann ziemlich grau sein.

Sie arbeiten seit über zwei Jahrzehnten mit der Bremer Kammerphilharmonie, so viel Treue ist in Ihrer Branche mehr als ungewöhnlich. Um die Bee Gees zu zitieren: How deep is your love? Können Sie sich ein Leben ohne noch verstellen?

Järvi: Nein, das kann ich nicht. Die pragmatische, faire Antwort wäre: Solange es funktioniert, warum sollte ich das ändern? Es ist ein Teil meines musikalischen Lebens. Es ist also deep.

Corona hat so viel ausgebremst, und Sie waren jahrelang mit Vollgas unterwegs. Glauben Sie, dass Sie sich weiter so sehr bremsen können – oder wird alles werden wie vorher?

Järvi: Momentan glaube und fühle ich nicht, dass es wieder so wird, wie es war. Andererseits: Während des ersten Lockdowns war ich buchstäblich drei Monate nur zu Hause. Das hatte ich nicht mehr, seit ich aus Estland in die USA ging. Für viele war das sehr hart – für mich aber eine sehr positive Erfahrung. Ich erkannte, dass ich wie verrückt herumlief und Erwartungen erfüllte. Das war zu viel, zu intensiv, zu viele Reisen, zu viele Jetlags. Zu genau dieser Art von Leben möchte ich nicht wieder zurück.

Was haben Sie mit sich angestellt? Den Rasen gemäht?

Järvi: Am Anfang gab es diesen Unglauben. Zweite, dritte Woche: Man fand seine Routinen. Aufwachen im eigenen Bett, zu Hause sein, die eigene Kaffeemaschine … Normalerweise habe ich mir immer zwei Wecker gestellt, weil ich besorgt war, eine Probe oder eine Abfahrt zu verpassen. Es fühlte sich unglaublich normal an, im besten Sinne des Wortes, sich mit einem Ort als Zuhause zu verbinden und ihn nicht nur als Transit-Station zu nutzen. Meinem Hirn tat das unglaublich gut.

Christoph von Dohnányi sagte mir über seinen Job: „Dirigieren ist nicht schwer. Musik machen ist schwer.“

Järvi: Stimmt genau. Wenn es ein T-Shirt mit dem Spruch gäbe, würde ich das tragen.

Letzte Frage, die kann ich mir nicht verkneifen: Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie wie der fröhliche, coole Zwillingsbruder von Wladimir Putin aussehen?

Järvi: Das höre ich ständig von allen. Googeln Sie mal meinen Namen, das ist eines der ersten Resultate.

Gibt es auf diese blöde Frage eine Standard-Antwort?

Järvi: Nein, zum einen, weil ich nicht finde, dass das stimmt. Und andererseits hätte ich nichts dagegen, wenn ich die Hälfte seines Gelds und ein Viertel seiner Macht hätte.

Konzerte beim SHMF: Am 8.7. mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und Werken von Schubert und Beethoven. Mit dem Tonhalle Orchester Zürich, Hélène Grimaud (Klavier) und Werken von Schumann und Schubert: 19.8. Neumünster, 20.8. Hamburg, Elbphilharmonie. Infos: www.shmf.de