Hamburg. „Ich sehe was, was du nicht siehst“ zum Mitmachen – jeden Montag im Abendblatt. Heute: Ein Werk von Robert Delaunay.

"Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist…“ – bei kaum einem Kunstwerk dürften die Interpretationsmöglichkeiten so vielfältig wie bei Robert Delaunyas „Fenster-Bild“ von 1912 sein. Zunächst meint man ein Paar Augen oder Nasenlöcher zu erkennen, dann wiederum sind es Berge, ganze Landschaften, bis sich schließlich, grünlich schimmernd, der Eiffelturm in der Mitte herauskristallisiert – wohl wissend, dass der französische Künstler (1885-1941) seit 1909 hauptsächlich die Stadt Paris in seinen großen Serien „Saint-Séverin“, „La Ville“ und „La Tour“ verewigte.

Nach einer abgebrochenen Schulausbildung begann Robert Delaunay 1902 eine Lehre als Bühnendekorateur, 1904 stellte er erstmals im Pariser „Salon des Indépendants“ Bilder im spätimpressionistischen Stil aus. Von allen drei oben genannten Serien zeigte er Beispiele auf der ersten Ausstellung des „Blauen Reiter“ 1911/12 in München, wobei vor allem der kubistisch zersplitterte „Tour Eiffel“ großen Eindruck auf die deutschen Künstlerkollegen Paul Klee, Franz Marc und August Macke machte.

Delaunay schuf ab 1912 die Serie seiner „Fenêtres (Fenster-Bilder)

Ab 1912 schuf Delaunay die umfangreiche Serie seiner „Fenêtres (Fenster-Bilder)“, die mit prismatischen, quasi-abstrakten Farbrauten arbeiten. Auf Delaunays erster Einzelausstellung in der „Sturm“-Galerie in Berlin 1912 wurde eine große Anzahl dieser Fenster-Bilder gezeigt.

1912 schuf Robert Delaunay dieses 46 mal 40 Zentimeter große „Fenster-Bild“ in Mischtechnik auf Leinwand; auch der Rahmen aus Fichtenholz wurde in seine fantasievolle Großstadt-Komposition einbezogen. Mittig ist der Eiffelturm zu erkennen
1912 schuf Robert Delaunay dieses 46 mal 40 Zentimeter große „Fenster-Bild“ in Mischtechnik auf Leinwand; auch der Rahmen aus Fichtenholz wurde in seine fantasievolle Großstadt-Komposition einbezogen. Mittig ist der Eiffelturm zu erkennen © © SHK / Hamburger Kunsthalle / bpk Photo: Elke Walford | Unbekannt

„In der modernen, von Geschwindigkeit und einer Vielzahl von Ereignissen geprägten Großstadt sah Delaunay kein Hinter- und Nacheinander mehr, sondern Gleichzeitigkeit. Diese wollte er, analog zur Musik und Lyrik, im Rhythmus einer flirrenden Malerei fassen, die keine Grenzen kennt. In diesem ‘Fenster-Bild’ scheint sich die Komposition noch über den bemalten Rahmen hinaus auszudehnen“, so Karin Schick, Leiterin Klassische Moderne an der Hamburger Kunsthalle.

Indem sich die Formen von Landschaft und Architektur zunehmend auflösten, bewegte Delaunay sich immer mehr auf den Kubismus zu. Das „Fenster-Bild“ mit seinen rhythmisch angeordneten kristallinen Farbfeldern ist ein Zeugnis des 1912 aufkommenden Orphischen Kubismus, dessen Hauptvertreter Delaunay war.