Hamburg. Vor zwei Wochen erst war Leonidas Kavakos für ein NDR-Radiokonzert in Hamburg. Jetzt kommt der Geiger wieder.
Gerade zwei Wochen sind vergangen, seit der Geiger Leonidas Kavakos für ein Radio-Konzert mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester nach Hamburg kam. Anfang Juni – die guten Corona-Zahlen machen’s möglich – wird er wieder einfliegen. Wieder Konzerte mit dem NDR-Orchester, doch diesmal mit leibhaftigem Publikum im Großen Saal. Ein Gespräch über den tieferen Sinn von Konzerten, über seine Kindheit in Athen und die Perfektion von Stradivaris Instrumenten.
Hamburger Abendblatt: Wie wichtig ist es Ihnen, am Ende eines Konzerts Applaus zu bekommen?
Leonidas Kavakos: Applaus nach einem Konzert ist schon wichtig – aber die Anwesenheit des Publikums während des Konzerts ist wichtiger. Man kann in einer Probe nie erreichen, wie man in einem Konzert spielt, weil die Energie eine andere ist. Je nachdem, welche Musik man spielt, kann Applaus auch störend sein. Wenn ein Stück sehr still endet, ist es wirklich toll, diesen Zauber am Ende wirken zu lassen. Für das Publikum ist Applaus wie Ausatmen, für uns auf der Bühne ist es ein Ausdruck der Dankbarkeit. Aber für mich absolut am wichtigsten ist die bedingungslose Gemeinschaft aus Künstlern und Publikum. Das Musik diese Wirkung hat, liegt ja nicht nur am Klang, sondern auch daran, was dahinter ist. Diese Botschaft wirkt viel tiefer als nur bis zu den Ohren.
Wenn diese Gemeinschaft so wichtig ist, wie kamen Sie dann durch das letzte Jahr?
Kavakos: Anfangs war es ein großer Schock. Meine letzten Konzerte waren im letzten März in der Carnegie Hall, drei Trio-Konzerte mit Yo-Yo Ma und Emanuel Ax. Alle ausverkauft. Das erste war noch voll, beim zweiten waren einige Plätze nicht besetzt, beim dritten schon sehr viele. Danach schloss alles, ich bin zurück nach Hause und brauchte etwa zwei Monate, um innerlich zu verstehen, dass Dinge gestrichen werden, dass Aktivitäten eingeschränkt werden. Sorgfalt, Angst, Sorgen, nur das Lebenswichtige tun dürfen. Für knapp zwei Monate habe ich meine Geige nicht angefasst. Mir war nicht danach zu spielen, bei all den Nachrichten über Menschen, die Tag für Tag starben. Ich habe viel gelesen. Dann aber wollte ich meine Mitte, meinen Rhythmus wiederfinden und fing wieder an.
Sind Sie wegen dieser Zeit der Unsicherheit ein besserer Musiker geworden - oder nicht mehr so gut wie davor?
Kavakos: Wie jemand – abgesehen von der Technik – spielt, ist eine Mischung aus Wissen, Lebenserfahrung, Talent, Forschung, Fragenstellen und den vielen anderen Elementen, die für ein Ergebnis notwendig sind. Und das kann nicht in Frage gestellt werden. Wir wachsen auch durch schlechte Erfahrungen, sie sind sehr wichtig und ebenso kreativ, obwohl sie auch zerstörerisch wirken. Der Phönix-Effekt. Wir sind, wer wir sind, und wir müssen weitermachen. Meine persönliche Karriere ist kein Ziel von Kunst. Kunst ist dafür da, dass ich – zusammen mit dem Publikum – ein besserer, vollständigerer Mensch werde. Das hört ja nicht auf.
Über Ihre Jugend ist wenig zu finden. Ihr Vater ist auch Geiger, Ihre Mutter Pianistin, Sie wuchsen in Athen auf. Wie war der kleine Leonidas? Viel üben, ständig Fußball, wie war das damals?
Kavakos: Es lief alles sehr natürlich ab. Meine Eltern waren beide Musiker, sie begegneten sich, als sie im Konservatorium gemeinsam spielten. Zuhause war überall Musik – mein Vater hat geübt, ich ging zu seinen Orchesterkonzerten, meine Mutter war ein Übe-Freak. Während des Studiums, wenn sie im Konservatorium übte, war sie immer die letzte, der Direktor machte das Licht aus, damit sie endlich nach Hause ging. Als ich zu krabbeln begann, bemerkten meine Eltern, dass ich bei bestimmten Melodien aufhörte und ihnen beim Spielen zuhörte. Und wenn so eine Stelle vorbei war, wandte ich mich wieder ab. Da fiel ihnen auf, dass ich Musik wohl anders höre. Mit fünf bekam ich zu Weihnachten eine kleine Geige und ich war komplett begeistert. Ich habe sie mit ins Bett genommen, sie war den ganzen Tag bei mir. Und meine Eltern waren so smart, mich nicht sofort zum Unterricht zwangen. Sie ließen mich die Geige ein Jahr lang dabei haben, als Teil meines Lebens. Danach ging es langsam los. Zum Üben wurde ich nicht gezwungen – aber zur Disziplin beim Üben. Das half sehr.
Gab es einen Punkt, an dem Ihr Vater erkannte: Oha, mein Sohn ist ein besserer Musiker als ich? Konnte er das akzeptieren?
Kavakos: Nichts machte ihn glücklicher. Ich war etwa 15, als ich Saint-Saëns‘ Rondo capriccioso übte, ein wirklich virtuoses Stück, insbesondere die letzte Seite. Sehr viele schnelle Noten. Ich sollte mir damals all die großen Virtuosen anhören, und Arthur Grumiaux spielte die letzte Seite des Stücks schon ziemlich schnell. Aber ich konnte das viel, viel schneller. Also sagte ich meinem Vater, ich wolle ihm etwas zeigen und spielte ihm die ersten Takte vor. Dann fragte ich ihn, ob er wissen wolle, wie schnell ich das tatsächlich kann. Ich zog das Tempo immer mehr an – und sein Gesicht werde ich nie vergessen (lacht). Er strahlte, er wollte schreien… Er war so beeindruckt und holte seinen Bruder, der direkt unter uns wohnte. Er war so glücklich. So ging es ihm auch bei den internationalen Wettbewerben, an denen ich teilnahm und bei denen er immer dabei war…
… und da hat er ständig allen Juroren gesagt: Der da, das ist mein Sohn!?…
Kavakos: Nein, hat er nicht. Es ging ihm nie um Konkurrenzdenken. Für ihn war es das Beste, was ihm in seinem Leben passieren konnte.
Wie würden Sie den Klang einer Geige beschreiben? Menschliche Stimme; die Stimme Gottes; die Stimme der Natur; ein abstraktes Mittel, um Musik hörbar zu machen?
Kavakos: All das, mit Ausnahme der letzten Erklärung. Abgesehen vom hohen Register sollte die Geige sehr nah an der menschlichen Stimme sein. Wunderbar finde ich, dass das Holz für den Klang den gleichen Effekt produziert wie das Atmen für die Stimme. Wenn man den Bogen sehr leicht auf die Saite setzt, bevor man irgendeine Note hört, dann wird man dieses Geräusch des Holzes hören. Dort beginnt der Klang. Das sollte man beachten. Und eine großartige Geige kann auch dabei schon Farben anbieten. Das Problem eines Streichinstruments: Wir haben keine Buchstaben. Beim Singen hat man immer einen Text, es gibt eine Idee, einen Zusammenhang. Die Wörter haben Vokale und Konsonanten, die sind Farben und Artikulationen. Dafür müssen wir Wege finden. Wie bringt man ein N oder ein R? Sehr schwierig. Deswegen ist die Bogentechnik so wichtig, denn so stellt man die imaginären Vokale und Konsonanten her. Es gibt keinen Text, also hat der Zuhörer viel mehr Freiheiten, mit dem Klang dorthin zu reisen, wo immer er auch sein möchte. Wir sprechen über nichts. Wir erschaffen einen Klang, wir erfinden eine Situation. Das ist die Aufgabe eines Künstlers auf der Bühne: dem Zuhörer beim Reisen behilflich zu sein. Wir können mit der Musik meditieren und unsere eigene Reise organisieren. Kunst bietet einem das Ticket zu einer Reise ohne Verpflichtungen, ohne Grenzen. Sie eröffnet uns den Weg in eine höhere Sphäre, zu Ideen und Gedanken. Das hätte während der Corona-Monate unbedingt helfen sollen, genau das hätten die Menschen gebraucht, während sie reglementiert waren. Konzerte wären ein Weg aus dieser Depression gewesen. Stattdessen wurde Kultur aber nur wie eine weitere Berufsausübung behandelt. Ein großer Fehler, denn eine Aufgabe von Kunst ist ihre therapeutische Wirkung. Das geht zurück aufs antike Griechenland – die meisten antiken Theater waren ein Teil von Heiligtümern. Die Patienten gingen dort nicht hin, um unterhalten zu werden, das ist ein komplett verkehrtes Wort. Sondern weil die Künste genau diese Aufgabe haben: Sie sollen Geist und Seele heilen und uns helfen, besser zu werden.
Sie spielen eine Stradivari. Bei einem Instrument aus dieser Liga ist es ziemlich unmöglich, sich bei einem schlechten Auftritt herauszureden. Der Stradivari jedenfalls kann man die Schuld nicht geben.
Kavakos: Das sehe ich nicht ganz so. Stradivaris sind aus verschiedenen Gründen großartig. Vor allem sind sie unglaubliche Kunstwerke. Schon die Herstellung ist unglaublich. Stradivari starb 1737, Mozart wurde 1756 geboren. Wir wissen, wie damals das Musikleben war, was eine Sinfonie bedeutete. Stradivari baute Instrumente, die in seiner Zeit noch gar nicht gebraucht wurden. Die größten Ensembles: vielleicht um die 20 Mitglieder. Die größten Konzertsäle: kein Vergleich zu den großen Hallen, in denen wir heute spielen. Es gab keinen Bedarf für das, was er schuf, und dennoch war es prophetisch. Hätten Brahms, Beethoven, Bartók, Schostakowitsch ihre Konzerte geschrieben, wenn die Geige nicht diesen Klang gehabt hätten, den Stradivari zum Standard gemacht hatte? Niemals. Man hätte das Instrument bei der Größe der Orchester und der Instrumentation nie hören können. Das allein macht Stradivari zu einem der größten Genies aller Zeiten. Und er entwickelte sich: Bis zum Ende seines Lebens veränderte er immer wieder Details. Und dann die Schönheit der Bauart, ihre Perfektion. Heute, 300 Jahre später, kopieren wir diesen Typen immer noch.
Wie geht diese Geschichte weiter?
Kavakos: Jetzt kommt auch noch der Geiger ins Spiel. Er soll den Klang erzeugen und ein makelloses Konzert spielen. Aber woraus ist eine Geige gebaut? Aus Holz. An ihren dicksten Stellen auf der Rückseite ist es vier Millimeter dünn, auf der Oberseite sind es zweieinhalb, an den Seiten eineinhalb Millimeter. Alles unglaublich delikat. Die Maserung lässt Sommer und Winter erkennen. Feuchte und trockene Jahreszeiten gibt es auch heute, sehr kalte und sehr warme Phasen. Dadurch wird das Instrument beeinflusst. Wenn ich morgen von Hamburg – zehn Grad – nach Südspanien – 29 Grad – reise, fühlt die Geige die Luft dort, sobald ich ihren Kasten öffne. Können Sie sich vorstellen, was sie durchmacht? Das hat Folgen. Das Instrument kann schneller werden oder langsamer. Mehr oder weniger Klarheit. Also muss man das Spiel immer anpassen. Ein gesundes Instrument ist weniger anfällig – aber es reagiert. Viele werden Ihnen sagen: Ja, ich habe eine tolle Strad. Aber Klimawechsel mag sie nicht. Ich muss zwei, drei Tage vor einem Konzert dort sein. Dann springt sie an, sonst nicht.
Und was ist mit der Angst, ein derart wertvolles Instrument zum ersten Mal überhaupt in die Hand zu nehmen, der Angst, ihm womöglich Schaden zuzufügen?
Kavakos: Wenn man als Geiger ein solches Instrument hat, kann man gar nicht abwarten, es zu berühren (lacht). Man will mit ihm zusammen sein, es spielen, es erleben. Die Verantwortung ist enorm, die Geige dem Zustand zu erhalten, in dem man sie erhalten hat. Man kann sie nicht ersetzen. Wenn einer etwas passiert, gibt es eine weniger. Wir sind alle sehr sorgfältig, kontrollieren ständig, dass die Bedingungen nicht zu extrem sind. Es gibt aber leider auch Künstler, die eine Geige in fantastischem Zustand übernommen und schrecklichem Zustand weitergegeben haben. Schwitzt jemand stark, und dieser Schweiß landet 25 Jahre lang immer auf der gleichen Stelle, hält ein Instrument das nicht aus.
Könnten Sie ohne „Ihre“ Stradivari noch leben?
Kavakos: Diese wird wahrscheinlich meine letzte sein. Obwohl: Man weiß nie. Wir als Künstler wachsen und verändern uns, wir suchen immer nach etwas, das nicht unbedingt besser ist, aber anders sein könnte. Ab einem gewissen Niveau sind diese Instrumente nicht schlechter oder besser, sie unterscheiden sich, wie Menschen. Wenn ich also entscheide, dass der Klang, den ich für mich hören möchte, in eine andere Richtung geht als die, die das Instrument mir jetzt gibt – dann sehe ich mich vielleicht nach einem anderen um. Es geht um die Passform dessen, was ich tun möchte.
Keine Ahnung, ob das im Griechischen auch so ist wie im Deutschen: Man „spielt“ ein Stück, obwohl das Aufführen von Musik doch so harte Arbeit ist.
Kavakos: „Spielen“ sollte nicht als verkleinernder Begriff gesehen werden. Das ganze Leben dreht sich ums Spielen. Das Leben beginnt in einem Moment und endet in einem anderen Moment. Unsere Lebensjahre sind nichts, verglichen mit der Zeit an sich. Im Griechischen sprechen wir auch davon, Geige zu spielen. Aber wir spielen ja auch in der Musik: Ich werde eine Phrase beim zweiten Mal nie genauso spielen.
Wenn Sie also auf der Bühne „arbeiten“, machen Sie etwas verkehrt.
Kavakos: Absolut. Und was Symetrie und Perfektion angeht: die basiert auf asymetrischen Elementen. Erst das Verhältnis sorgt für Symetrie, nicht die Gleichheit. Gleichheit hilft nicht. Stradivari hat bei seinen Geigen das F-Loch auf einer Seite immer leicht anders als auf der anderen Seite platziert. Es ist wie bei einem menschlichen Gesicht. Und wenn man sich das ansieht, stört es nicht. Genau das versuchen wir auch bei Konzerten: Symetrie entsteht aus lokal unterschiedlichen Einzelteilen. Gehen sie zum Parthenon in Athen – auf den ersten Blick sehen alle Säulen genau gleich aus. Aber jede unterscheidet sich von der anderen.
Konzerte: 3.6., 18.30 / 21 Uhr (ausverkauft), 6.6., 10.30 / 13 Uhr (Restkarten) Fauré: Suite aus „Pelléas et Mélisande“ / Mendelssohn Bartholdy: Violinkonzert e-Moll / Berlioz „La Carnaval Romain“. NDR Elbphilharmonie Orchester, Leonidas Kavakos, Stéphane Denève.
Aufnahmen: Beethoven: „Die kompletten Violinsonaten“ mit Enrico Pace (Klavier) (Sony Classical, 3 CDs ca. 18 Euro). Brahms: Klaviertrios mit Yo-Yo Ma (Cello) und Emanuel Ax (Klavier) (Sony Classical, CD ca. 13 Euro)